Antizionistisches, Bedenkenswertes

Rezension Eine kleine Streitschrift zum Israel-Palästina-Konflikt aus dem linken jüdischen Milieu Frankreichs wirkt wenig aufklärerisch.

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Das von der Berliner Buchmacherei herausgegebene kleine Traktat Pierre Stambuls muss als ein diskursiver Partisan in der hegemonialen bundesrepublikanischen Publikationslandschaft gesehen werden. Texte dieses Zuschnitts – radikal antizionistisch, propalästinensisch und antiimperialistisch – kennt man aus der 68er-Zeit, sie wurden von der globalen Neuen Linken formuliert. In Kurzform tauchen Fragmente dieses Denkens auf propalästinensischen Flugblätter zum israelischen Krieg gegen Gaza nach dem 7. Oktober wieder auf.

In der Bundesrepublik gab es einmal anerkannte linke antizionistische Stimmen wie jene Erich Frieds. Heutzutage sind jüdische Stimmen gegen die israelische Besatzungspolitik bedroht, als „antisemitisch“ markiert zu werden. Rechte Stimmen warfen dies Fried zu seinen Lebzeiten auch schon vor, aber selbst in der ostentativ pro-israelischen Kultur der Bundesrepublik der 70er Jahre wurde er nicht gecancelt. Das sieht heutzutage anders aus. Das Neuköllner Kulturhaus Oyoun in Berlin sollte beispielsweise die Förderung gestrichen werden, weil dort der Vereins Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost eine Veranstaltung ausrichtete. Dies ist nur ein Beispiel unter unzähligen anderen, die bereits dafür sorgen, dass einige globale Kulturschaffende eine „Strike Germany“-Kampagne initiierten, weil man die staatsoffizielle Canzelei von links-jüdischen und antiimperialistischen Veranstaltungen als bedrohlichen Bruch mit der Meinungsfreiheit empfindet.

Der Autor Erich Fried, der mir beim Lesen von Stambuls Schrift in den Sinn kam, saß während des Vietnam-Kongresses im Februar 1968 mit dem Schriftsteller, Sozialisten und Internationalisten Peter Weiss auf dem Podium und positionierte sich in den 1970er Jahren linksradikal. Fried stammte aus einer in Wien lebenden jüdischen Familie und ging in die Londoner Emigration, veröffentlichte unter anderem einen Sammelband mit Israel- und zionismuskritischen bis antizionistischen Gedichten, in denen er wiederholt auf die nicht, beziehungsweise falsch gezogenen Lehren aus der NS-Unterdrückung unter dem Titel Höre, Israel! lyrisch reflektiert.

Darin schreibt er:

"Als wir verfolgt wurden,
war ich einer von euch.
Wie kann ich das bleiben,
wenn ihr Verfolger werdet?"

Wenn Pierre Stranbul, Ko-Präsident der Jüdischen französischen Union für den Frieden (Union juive francaise pour la Paix), schreibt: „Die Antwort auf den Völkermord der Nazis muss sein, alles zu tun, damit das niemals wieder passiert“ und er sich gegen Rassismus, Kolonialismus, Überlegenheitsdünkel, Diskriminierung und Ungleichheit ausspricht, so positioniert er sich wie Fried gegen den Wehrhaftigkeit postulierenden nationalistischen Zionismus und er klagt die Brutalität der zionistischen Okkupationspraxis an, die er als Wiederholung der Brutalität durch die Nazis begreift.

Nach den Massakern durch Hamas und andere Palästinenser in israelischen Kibbuzim und einem Musikfestival vom 7. Oktober 2023 erhebt sich in Deutschland von hegemonialer Seite die Forderung: Nie wieder heißt Jetzt!“, global zirkuliert der Slogan „Never again is now!“. Es ist ein diametral anderes „Nie wieder“ als jenes von Fried und Stambul. Das westlich-hegemoniale „Nie wieder“, in dessen Chor sich die offizielle deutsche Stimme besonders laut artikuliert, leitet eine bedingungslose Unterstützung Israels aus der Holocausterinnerung ab. Gegen den Antisemitismus, der sich in den Massakern des 7. Oktober ausdrücken würde, sei jede Verteidigung und Gegenwehr Israels gerechtfertigt.

Pierre Stambul verweist mit seinem kleinen Traktat auf einen Zusammenhang, einen Kontext, von dem zu sprechen kurz nach dem 7. Oktober in der Bundesrepublik hysterisch abgeraten wurde: Kontextualisierung sei Relativierung, wer über Besatzung des Westjordanlands, Abriegelung und an Okkupation grenzende Kontrolle des Gaza-Streifens, über jahrzehntelange Landnahme durch Israel spreche, der würde dem Schrecken des 7. Oktober nicht gerecht werden wollen, der wolle relativieren, sogar Verständnis für Mordaktionen zeigen, so die mit Drohung unterlegte Klage.

Es musste und konnte offensichtlich nur ein nicht-deutscher, anerkannter Intellektueller sein, der dieses Analyseverbot, das im Modus strategischer moralischer Erregung daherkam, unterlief: Der slowenische Slawoj Zizek formulierte in seiner Eröffnungsrede auf der Frankfurter Buchmesse Überlegungen, dass ohne eine Analyse der generellen Situation in Israel-Palästina auch das Ereignis des 7. Oktober nicht verstanden werden kann.

Zizeks Rede beinhaltet für einen informierten Zeitgenossen kaum Strittiges: Er erklärt, dass der Israel-Palästina-Konflikt ein blutiger Kampf um Land ist. Ähnlich wie Jean Paul Sartre im Gespräch mit französischen Maoisten in den frühen 70ern („Man kann nicht pro-arabisch sein, ohne auch ein bisschen pro-jüdisch zu sein... Und man kann nicht – wie ich – pro-jüdisch sein, ohne pro-arabisch zu sein“), erklärte sich Zizek mit den Rechten und legitimen Anliegen beider Völker identisch. Auch Stambul folgt dieser Haltung, wobei er sich im Namen eines antizionistischen Judentums, das er als wahres Judentums angesehen haben will, einseitig für die rechtlosen Palästinenser und deren Interessen ausspricht.

Allerdings, und hier beginnt mein Widerspruch, kulminiert Pierre Stambuls Haltung in einer Negation israelischer Staatlichkeit und von jüdischem Leben in Palästina. Er verfängt sich sogar in merkwürdige und im Kern reaktionäre Identitätspolitik, wenn er behauptet, die Palästinenser seien „die Nachfahren der Judäer von damals“ und „die Juden von heute“ seien „ganz offensichtlich nicht die Abkömmlinge der Juden der Antike“. Dies ist bloß eine Umkehrung religiös-historisierender Legitimation der Landnahme Israels, die der israelische Historiker Shlomo Sand untersuchte. Logisch zu Ende gedacht wäre das der Aufruf zu einer umgestülpten Reconquista: Den Juden würde dann Land weggenommen und ihre Existenz dort bestritten. Stambuls Traktat legt im letzten Kapitel mit dem Titel „Der Zionismus hat mich verlassen“ seinen Sprechort offen. Diese Zeilen müssten sehr ernst genommen werden. Sie begründen den Antizionismus des Autors. Er sieht in Israel lediglich eine Ausgeburt des Kolonialismus. So kommt es zu kaum nachvollziehbaren Passagen dieser Schrift, die die Legitimität einer israelischen Gesellschaft im historischen Raum Palästina bestreiten. Dies und vieles anderes in der kleinen Schrift erachte ich für grundsätzlich falsch. Man wünscht sich, dass Pierre Stambul, der in Frankreich lebt und somit im Kontext jüdischer Geschichte ein Diaspora-Leben führt, sich mit den Überlegungen kritischer israelischer Juden aus Israel konfrontiert und Teil ihres Gesprächs wird.

Wenn ich dies und anderes kritisiere, so möchte ich allerdings im gleichen Sinne wie Stambul nicht in die Falle des Narzissmus des „guten Juden“ tappen will, wie er erklärt, in die noch viel unangenehmere Falle des narzisstischen „guten nicht-jüdischen Deutschen“ gehen. Der hegemoniale Diskurs über Israel und Palästina ist hierzulande überdeterminiert vom Bedürfnis, als nicht-antisemitisch, bzw. anti-antisemitisch wahrgenommen zu werden. Diese narzisstische Selbstpositionierung ist selbst in die deutsche „Staatsräson“ eingeschrieben, in der sich die historische deutsche Schuld zu behaupteter deutscher Unschuld verkehrt. Das Pro-Israel-Bekenntnis verhärtet sich gegenüber dem Schicksal der Palästinenser und betreibt eine Ineinssetzung von „Juden“ und „Israel“. Die Schuldverschiebung kommt zuweilen in der ostentativen Anklage von judenfeindlichen Aussagen von Migranten, Ausländern und Deutschen mit Migrationshintergrund zum Ausdruck. Diese Art der Anklage des Antisemitismus der Anderen hat etwas widerwärtig Verlogenes.

Die Überforderung, ein adäquate Kritik an diesem Büchlein zu formulieren, liegt darin, dass eine Kritik der leidenschaftlichen Streitschrift von Pierre Stambul sich Rechenschaft ablegen sollte, worin sie begründet ist. Stambul erklärt seine aktuelle Position als Ergebnis einer Aufklärung über das wahre Wesen des kolonialistischen Israel. Er beschreibt dies als Lern- und Erkenntnisprozess und als Austritt aus einer Blendung, der er als Jude lange unterlag. Es wäre ein Leichtes, den Leidenschaften Stambuls mit einigen historisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen zu begegnen. Will man das? In diesem Falle: Will ich das? Vielleicht sollte jedes Räsonieren über den Themenkomplex Israel/Palästina und Antisemitismus mit einer Selbstaufklärung beginnen. Wir bewegen uns immer in Gefühlserbschaften positiver wie negativer Art. In meinem Elternhaus wurde das linke, aufklärerische (jüdische) Erbe von Heinrich Heine über Karl Marx bis Ernst Bloch und Hans Meyer sehr geschätzt. Mein Vater empfand die Schuld der Deutschen als schwere Last so wie er sich aufrichtig über die Befreiung vom Faschismus am 8. Mai 1945 freute – und damit lange Jahre in einer verdrängenden bundesrepublikanischen Gesellschaft aneckte. Als früher Leser der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno entnahm er den Passagen über den Antisemitismus, dass das stereotypisierende Feindbilddenken als „Ticketdenken“ sich auch von den Juden als Objekt der Aggression lösen könne. Auch andere können zu Opfern werden: Linke Studenten, Ausländer, … Araber. Natürlich galt es vor diesem Hintergrund als Linker, als Antifaschist und Internationalist solidarisch mit den Palästinensern zu sein und kritisch mit dem zionistischen Israel, das die Grundideen eines universalistischen Judentums und einer Philosophie des gegenseitigen Verständnisses unterläuft. Gerade als Deutscher sollte man sich für diejenigen einsetzen, die zu staatenlosen Opfern einer nun Staat gewordenen ehemaligen Opfergruppe, Opfer der Deutschen!, wurden.

So lese ich vor diesem familiär-biographischen Hintergrund einige Aussagen von Pierre Stambul mit großer Übereinstimmung. Bei anderen beschleicht mich ein ungutes Gefühl und es provoziert meine Kritik. Stambul setzt Rassismus und Antisemitismus ineins. Die Schrift ist davon gekennzeichnet, dass sie Antisemitismus nicht als paranoide Verschwörungsmythologie zu begreifen vermag. „Der Jude ist an allem Schuld“ kam lange vor seiner pseudowissenschaftlichen Unterfütterung ohne Rassismus und die Konstruktion der Juden zur Rasse aus. Judenhass und paranoide Welterklärung existieren global und sie sind dem Islamismus als religiös-fundamentalistischen Bewegung eingeschrieben. Nicht umsonst zitiert die Charta der Hamas von 1988 die antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion“, die Zentralschrift des antijüdischen Verschwörungsglaubens.

Wenn Stambul schreibt, dass die arabische Welt bis zur Etablierung des Staates Israel „keine schmerzliche Vergangenheit mit den Juden“ hatte, so muss leider konstatiert werden, dass dies nicht stimmt. Als Höhepunkt von Massakern und bewaffneten Auseinandersetzungen ereigneten sich am 31. Oktober 1929 Pogrome gegen die jüdischen Minderheit in Städten wie Jerusalem, Hebron und Safed. In Gaza wurde die gesamte jüdische Gemeinde ausgelöscht. Aus den Ereignissen dieses „Jahres Null des arabisch-israelischen Konflikts“ (Hillel Cohen) schlossen die meisten Zionisten und jüdischen Siedler in Palästina, dass eine friedliche Koexistenz mit den Arabern, gar ein gegenseitiges kooperatives Lernen wie es Martin Buber anstrebte, nicht möglich sei. Es ist die Geburtsstunde des revisionistischen Zionismus, der alle anderen Spielarten des Zionismus, ob Kulturzionismus, Linkszionismus, anarchistischen Zionismus usw. marginalisierte.

Der Zionismus kam aus einem Teil der sich national formierenden Arbeiterbewegung, der jüdischen. Seine Eliten und Sprecher mochten Bürger sein, er mag genauso mit Kolonialmächten paktiert wie als nationale Befreiungsbewegung gegen sie gekämpft haben. Realisierung fand der Zionismus nur aufgrund der Praxis jüdischer Proletarier. In der Rede vom „Zionismus als Kolonialismus“ sind diese historischen Hintergründe ausgelöscht. Auch die arabische Gegenseite war nicht bloß Opfer. Bei Stambul sind die Pogrome von 1929 „Tumulte“, resultierend aus der verfehlten Kolonialpolitik Englands... Zwar erwähnt der Autor, dass der Zionismus Spaltungen durchmachte, welche und warum, wird jedoch unterschlagen. Er spitzt sogar seine Sichtweise auf den Zionismus derart zu, dass von Anfang an und logischerweise nur ein „Apartheidsstaat“ hat errichtet werden können. Doch gab es keine lost causes? Keine negative Dynamik aufgrund einer feindlichen Umgebung? So wie es nicht in erster Linie das zionistische Projekt war, das die Juden vom Rest der Menschheit trennte, wie Standbul schreibt, sondern der mörderische Antisemitismus, so müsste einem antijüdischen Abstoßungsphänomen in der arabischen Welt in weit stärkerem Maße nachgegangen werden, als der Autor und Aktivist bereit ist, es zu tun.

Auch ist Arafats Rolle in den Friedensverhandlungen keineswegs so engelsgleich und unproblematisch wie es im Text erscheint. Stambul schreibt, der Iran werde von der israelischen Regierung verzeichnet und es werde ihm notorische Böswilligekeit unterstellt. Das ist eine kuriose Umdrehung, weil es doch der Iran selbst ist, wo die Agitation gegen den „großen und kleinen Satan“ – also die USA und Israel – fester Bestandteil der Staatspropaganda ist.

In einer historischen Schrift des französischen Linksradikalismus hielten die AutorInnen illusionslos fest: „Angenommen es gelingt der PLO, ihr Maximalprogramm zu verwirklichen: die Zerstörung Israels und die Ersetzung einer Nation durch eine andere. Die palästinensische Nation, die auf den Leichen oder der Zwangsemigration der Juden errichtet wird, wird den Mythos eines 'laizistischen, freien und demokratischen Palästina' weit hinter sich lassen.“ Was damals in Bezug auf die PLO gilt, müsste heute angesichts der Dominanz des Islamismus nochmals deutlicher betont werden.

Am schwersten wiegt für mich, dass in dieser kleinen antizionistischen Schrift die israelische Gesellschaft entweder als black box oder als geschlossene Entität erscheint. Die prekär lebenden schwarzen Juden, die am Rand der Gesellschaft stehen, erscheinen im big picture vom „Siedlerkolonialstaat“ nicht. Wir hören und lesen nichts von den Versuchen in der israelischen Gesellschaft, gegen einen nationalreligiösen Populismus, der in Richtung religiösen Faschismus graviert, und gegen eine jüdische Ethnokratie vorzugehen. Israel ist schließlich kein geschlossener Monolith, sondern eine Klassengesellschaft, in der auch unterschiedliche politische Kräfte miteinander ringen. Zugegeben: die linken, fortschrittlichen Kräfte sind marginalisiert.

Das stärkste Kapitel ist für mich jenes, in dem Pierre Stambul fragt, wie man unter den aktuellen Bedingungen gegen den Antisemitismus kämpft. Es ist ein mutiges Kapitel. Es ruft Juden auf der ganzen Welt dazu auf, sich gegen die Politik des israelischen Staates zu positionieren. Die konstruierte Identität von Juden und Israel gälte es aufzuknacken. Doch dieser Vorschlag des Kampfes gegen den Antisemitismus zwingt auch, über den aktuellen Antisemitismus nachzudenken. Richtigerweise schreibt Stambul, dass es kein Land der Erde mehr gibt, das wie jenes der deutschen Vordenker der Vernichtung die Ausrottung der Juden zur Doktrin erhoben hat. Dieser rassistische Erlösungsantisemitismus mag an den Rändern, bei pro-nazistischen Rechtsradikaler noch eine politische Heimat finden, selbst unter den auf Regierungsbeteiligung setzenden ultranationalistischen und anti-migrantischen Rechtspopulisten ist dieser nicht mehr anzutreffen. Allerdings gibt es unter religiös-fundamentalistischen Bewegungen des Islam eine feste Haltung, dass jüdische Staatlichkeit und jüdisches Leben generell im Raum des historischen Palästina nicht geduldet werden könne. So wichtig es ist, deutlich zu machen, dass sich nicht alle Juden für Israels Kriege und Okkupationspraxis haftbar machen lassen, dass sie als Juden mit dieser Politik nicht einverstanden sind, so wenig ist verbürgt, dass auf der Seite der Araber und Palästinenser diese Differenzierung auch ins Gewicht fällt.

Die Massaker des 7. Oktober 2023 trafen jenen Teil der israelischen Gesellschaft, der am weitestgehendsten für eine Friedenslösung, für gegenseitiges Verständnis und eine gleichberechtigte und gemeinsame Zukunft votierten. So wurde die 74jährige israelisch-kanadische Friedensaktivistin Vivian Silver aus dem Kibbuz Be’eri wie einige andere, die an einen Frieden zwischen Juden und muslimischen Palästinensern glaubten, ermordet. Der 7. Oktober dementiert auf grausame Weise die von Stambul vorgeschlagenen anti-antisemitischen Versuche von jüdischer Seite als Dissidenten des Zionismus den Arabern die Hand zu reichen. Deshalb muss eine globale Linke den reaktionären und mörderischen Inhalt des Islamismus genauso laut verurteilen wie die Beschlagnahme des Jüdischen durch zionistische Reaktionäre.

So sehr Pierre Stambul Kritik diskussionswürdig, also der Diskussion würdig ist, so sehr erfasst er meines Erachtens weder die Tragik des Zionismus als nationalem Befreiungsprojekt zur Zeit des Endes des Kolonialismus und inmitten der Dekolonisierung nach dem Holocaust, noch die Gefährlichkeit der aktuellen Situation. Jüdisches Leben in Israel wie anderswo auf der Welt ist bedroht. Populistische Herrscher wie Erdogan spielen mit dem Antisemitismus in der muslimischen Welt. Man muss nicht den Begriff der „pathischen Projektion“ aus der „Dialektik der Aufklärung“ bemühen, um zu erkennen, dass unterschiedliche Akteure dabei sind, Israel zum Weltstörenfried zu erheben. Die Welt ist mit unüberschaubar vielen Krisen konfrontiert, die Misere des globalen Kapitalismus mit seinen Zonen der Prosperität und einer abgehängten Surplusbevölkerung ist greifbar. Dies wird von jedermann gefühlt und gemerkt, zuweilen die Gründe dafür nicht begriffen. Die linke Kritik am „Kolonialstaat“ Israel kann immer nur ein Element einer größeren, übergeordneten Gesellschaftskritik sein, wird sie hypostasiert, frönt sie einem Antiimperialismus der Schwarz-Weiß-Welterklärung, betreibt Pseudo- oder fetischistische Kritik, ob alt-staats-kommunistisch klingend oder scheinbar postkolonial motiviert.

Stambuls Traktat bewegt sich meiner Ansicht nach auf der Kante. Der ihm eingeschriebene (jüdische) Universalismus bewahrt ihn trotz Einseitigkeiten und Überspitzungen davor, Teil partikularer Ideologieproduktion zu werden; er votiert am Ende für das Zusammenleben in Gleichheit der Rechte. Es ist der neueste Schrei reaktionärer Diskursfiguren, eine solche radikal-universalistische Menschenrechtsposition als „antisemitisch“ auszuweisen. Auch Pierre Stambuls lesenswertes wie kritikwürdiges Pamphlet dürfte bedroht sein von diesen im Wortsinn so unverschämten wie politisch instrumentalisierten Vorwürfen. Der Schrift ist einzig vorzuwerfen, dass sie angesichts eines Revivals eines alten antizionistischen Antiimperialismus in linken Milieus und einem identitätspolitisch überwölptem Palästina-Fetisch unter Künstlern wenig Differenziertes, Erhellendes und Irritierendes beisteuert. Die rechten Freunde Israels und die Vertreter der Staatsräson werden das Traktat ja ohnehin nicht lesen – und wenn, dann nur um ihr Konstrukt eines „linken Antisemitismus“ bestätigt zu sehen.

Pierre Stambul, Gegen den Antisemitismus und Für die Rechte des palästinensischen Volkes, Übersetzung einer Broschüre aus der jüdischen antizionistischen Bewegung Frankreichs, Verlag Die Buchmacherei Berlin, 2023

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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