Georgi Demidow: „Fone Kwas oder Der Idiot“ – Über die Unmöglichkeit, den Himmel zu sehen

Gulag Georgi Demidow starb in dem Bewusstsein, dass all seine Manuskripte für immer verloren seien. „Fone Kwas oder Der Idiot“ erzählt vom Wahnsinn des Stalin-Terrors. Endlich wird dieser Roman auch für deutsche Leser:innen wiederentdeckt
Grau wie die Zellenwand
Grau wie die Zellenwand

Foto: Matthias Tödt/picture alliance/dpa

Als ich Georgi Demidows Bericht über seine Einlieferung in ein sowjetisches Gefängnis im Jahr 1937 zu lesen begann, konnte ich noch nicht ahnen, welche Aktualität diese Lektüre durch den Tod Alexei Nawalnys bekommen würde. Die Verhältnisse, die die Hauptfigur in Demidows Roman in der stalinistischen Sowjetunion antraf, scheinen im Kern unverändert geblieben zu sein.

Irina Rastorgueva schreibt in ihrem Nachwort: „Heute regieren die Nachfahren der Henker das Land, und die Grundsätze des Strafsystems im heutigen Russland unterscheiden sich nicht wesentlich von denen der Sowjetunion – Verhaftungen aus weit hergeholten Gründen, nächtliche Durchsuchungen, überfüllte und stickige Haftzellen, Folter, unfaire Verfahren ohne das Widerspiel von Anklage und Verteidigung und Verurteilungen ohne Rücksicht auf die Unschuld der Verurteilten.“

Und auch der Krieg, mit dem Russland seit zwei Jahren die Ukraine überzieht, hat seine Ursachen in derselben Geschichte. Nach der Lektüre von Demidows Buch begreift man besser, worum es im Kampf der Ukrainer letztlich geht und was auf dem Spiel steht.

Jemand musste Belokrinitskij denunziert und verleumdet haben, „denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“. Ähnlich wie Kafkas Der Prozess beginnt auch der Roman Fone Kwas oder Der Idiot von Georgi Demidow mit der Verhaftung des Ingenieurs Rafail Lwowitsch Belokrinitskij durch zwei Mitarbeiter des sowjetischen NKWD. Er wird in ein Auto gestoßen und in ein Gefängnis transportiert. Die Fenster der Zellen waren mit Eisenplatten abgedeckt, sodass der Insassen selbst der Blick auf den Himmel verwehrt war. Die Treppenaugen waren auf jeder Etage mit Netzen überspannt, um den Häftlingen noch den Sprung in den Tod zu verwehren. Mauerecken waren mit Filz beklebt, um zu verhindern, dass Gefangene sich die Köpfe einrennen konnten.

Tochter von Georgi Demidow gelang es, die Manuskripte zu retten

Die Zellen waren derart überbelegt, dass die Häftlinge „wie Sardinen in einer Blechdose gestapelt waren“ und sich im Schlaf nicht umdrehen konnten, ohne einander zu wecken. Neuankömmlinge bekamen den Platz neben oder auf dem Toilettenkübel zugewiesen und rückten dann im Laufe der Zeit näher ans Fenster heran, wo man wenigstens ein wenig Luft zum Atmen bekommen konnte. Nervös und angespannt warten die Häftlinge darauf, dass sie zum Verhör geholt werden, was oft nachts oder am frühen Morgen geschieht. Erfahrene Häftlinge versorgen die Neuankömmlinge mit nützlichen Tipps, wie man diese Verhöre überstehen und abkürzen kann. Auch Belokrinitskij erhält solche Beratung durch einen mitinhaftierten Staatsanwalt und einen Arzt, die es gut mit ihm meinen.

Da niemand irgendwelche Straftaten begangen und wirkliche Schuld auf sich geladen hat, geht es darum, irgendwelche Geschichten zu erfinden, die die NKWD-Mitarbeiter zufriedenstellen. „Das Ziel der Verhöre ist nicht, die Wahrheit herauszufinden, sondern nur, vom Angeklagten ein volles Geständnis der ihm auferlegten Schuld zu erhalten.“ Auf dem Weg dorthin werden Folter, Schläge und Schlafentzug eingesetzt. Die Geständnisse führen zum Abtransport in ein Straflager, das aus der Perspektive der überfüllten Zelle als „das gelobte Land“ erscheint, oder in den Keller zur prompten Erschießung.

Demidows Roman ist weitgehend autobiografisch und speist sich von den Erfahrungen, die er während seiner eigenen jahrelangen Lagerhaft in der Stalinzeit machen musste. Seine Manuskripte wurden noch 1980 im Rahmen einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt. Demidow starb 1987 in dem Bewusstsein, dass alles, was er je geschrieben hatte, vernichtet und auf immer verloren sei. Seiner Tochter gelang es nach 1989, seine Manuskripte zurückzuerhalten. 1990 wurde Demidow zum ersten Mal veröffentlicht. Mit Fone Kwas oder Der Idiot ist bei Galiani endlich auch ein erstes Buch von ihm auf Deutsch erschienen – in der famosen Übersetzung von Irina Rastorgueva und Thomas Martin.

Der Roman ist eine Flaschenpost aus dem Lagersystem der Sowjetunion. Demidows Roman sperrt uns für die Zeit der Lektüre in die klaustrophobische Enge von Zelle 22 und lässt uns den Schweiß riechen, der die Kleidung der Häftlinge durchtränkt. „Fone Kwas“ ist übrigens jiddisch und heißt soviel wie: Einfaltspinsel oder Idiot. Ein solcher ist zu Beginn seiner Haft auch Belokrinitskij, der seine Inhaftierung für einen Irrtum hält und wie der junge Buchenwald-Häftling in Camus‘ Tagebuch beteuert: „Denn sehen Sie, ich bin ein Sonderfall, ich bin unschuldig.“

Fone Kwas oder Der Idiot Georgi Demidow aus dem Russischen von Irina Rastorgujewa und Thomas Martin, Galiani 2023, 202 S., 22 € Leseprobe

Jetzt schnell sein!

der Freitag digital im Probeabo - für kurze Zeit nur € 2 für 2 Monate!

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden