Eine Gesellschaft im Streit

Corona-Krise Auf dem Höhepunkt der Pandemie streitet sich die Gesellschaft – endlich. Denn es sind die Versäumnisse der Vergangenheit, die heute die Krise vertiefen

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Diese Krise macht sichtbar, was vorher schon im Argen lag: Hätte irgendeine der „Großen Koalitionen“ sich in den vergangenen Jahren zu einer Pflegereform durchgerungen, würden Pflegeheime und Krankenhäuser nicht schon im Normalbetrieb an der Grenze der Belastbarkeit operieren
Diese Krise macht sichtbar, was vorher schon im Argen lag: Hätte irgendeine der „Großen Koalitionen“ sich in den vergangenen Jahren zu einer Pflegereform durchgerungen, würden Pflegeheime und Krankenhäuser nicht schon im Normalbetrieb an der Grenze der Belastbarkeit operieren

Foto: Thomas Lohnes/AFP/Getty Images

Im Vergleich zum Frühjahr gibt es einen massiven Fortschritt beim gesellschaftlichen Umgang mit der Corona-Pandemie und ihren Auswirkungen. Gleichwohl leistet er paradoxerweise dem Corona-Verdruss Vorschub: Die Gesellschaft streitet.

Nicht nur sind Kinder und Schüler:innen in das Blickfeld der Politik gerückt – damit ist das hoch emotional besetzte Feld der Familien- und Bildungspolitik zum dauernden Gesprächsgegenstand geworden –, sondern alle möglichen gesellschaftlichen Akteur:innen beteiligen sich an der Debatte. Natürlich trägt ein:e jede:r vor allem das eigene Anliegen ein. Wir erleben die Diskussion um die „Systemrelevanz“ unter veränderten Vorzeichen erneut.

Wenn nun auch die Schulen und Kindergärten wieder geschlossen werden, dann ist das auch ein Zeichen dafür, dass bisher – trotz dramatischer Entwicklung der Infektionszahlen – auf diese von den Pandemie-Folgen besonders betroffenen Gruppen Rücksicht genommen wurde. Die Schließungen sind die ultima ratio. Da stehen wir jetzt.

All jenen, die – gerade im Netz – immer härtere Maßnahmen gegen die Pandemie fordern, sei in Erinnerung gerufen: Die Politik hat längst einen Paradigmenwechsel bei der Corona-Bekämpfung vollzogen. Allerdings nicht erst bei Ausrufung des „Lockdown light“ Ende Oktober, sondern bereits im Frühsommer, als mit den ersten Öffnungen auch Abstand von einer radikalen Eindämmung des Virus’ genommen wurde.

Seitdem geht es nur noch um die Moderation des Pandemie-Geschehens. Weil die gescheitert ist, wird nun nachgesteuert. Anders als der aufgeheizten Debatte zu entnehmen ist, ging es bei den zaghaften Maßnahmen seit November auch nicht primär um die Rettung des familiären Weihnachtsfestes, sondern um zwei sehr handgreifliche Ziele:

Zunächst die Entlastung des Gesundheitssystems, der Intensivstationen zuerst, dann aber auch der Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser insgesamt, die allesamt unter Personal- und Fachkräftemangel leiden und deren Versorgung mit Schutzmaterialien keineswegs so sicher ist, als dass man sich als um die eigene Befindlichkeit besorgte:r Bürger:in darum nicht scheren müsste. Erst diese Woche riefen mehrere große Wohlfahrtsverbände vernehmlich um Hilfe: Der Betrieb insbesondere in der Alten- und Krankenpflege können kaum mehr aufrecht erhalten werden.

Den zweiten Schwerpunkt bildet die Sorge um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Schulen und Kindergärten sind auch – vielleicht sogar vor allem – deshalb geöffnet geblieben, weil die Eltern der Kinder ihrer Erwerbstätigkeit nachkommen sollten. Sich über diesen Schwerpunkt zu erheben gelingt wohl nur denen widerspruchsfrei, die von altem Geld zu leben belieben. Über die ohnehin stillere Zeit „zwischen den Jahren“ lassen sich hier vielleicht Erfolge bei der Pandemiebekämpfung erzielen, wenn wirklich auf Partys verzichtet wird.

Versäumnisse der Vergangenheit

Die Krisenfolgen werden mit beispiellosen Hilfspaketen bekämpft. In dieser Woche verhandelt der Bundestag ein Haushaltsgesetz von einmaliger Qualität. Nach und nach bekommt jede:r sein Scherflein von den Regierungen nachgetragen. Selbst Wirtschaftsmodelle von gestern, wie Inlandsflüge und Zeitungen aus Papier, erhalten unverhältnismäßig hohe Unterstützung. Insbesondere das sozialdemokratische Finanzministerium bekämpft die Krise mit reichlich Bimbes. Es ist, als hätte sich Olaf Scholz das Bibelwort zu Herzen genommen, nach dem man sich mit dem ungerechten Mammon Freunde machen soll.

Dass in der Krise und auch durch die Hilfsmaßnahmen manche Ungerechtigkeit zementiert wird, liegt nicht am mangelnden Bemühen der Akteur:innen in der Krise, sondern an den Versäumnissen der Bundesregierungen der vergangenen Jahre.

Gäbe es schon eine nationale Strategie zur Bekämpfung des Klimawandels, wäre über das Sponsoring der Lufthansa anders verhandelt worden. Gäbe es eine Digitalstrategie, könnten nicht allein viel mehr Schüler:innen bequem von Zuhause aus lernen, sondern man müsste auch den darbenden Großverlagen kein Finanzgeschenk von über 200 Millionen Euro anbieten.

Hätte irgendeine der „Großen Koalitionen“ sich in den vergangenen Jahren zu einer Pflegereform durchgerungen, würden Pflegeheime und Krankenhäuser nicht schon im Normalbetrieb an der Grenze der Belastbarkeit operieren. Wären die Leistungen für Familien und Kinder in den vergangenen Jahren nicht nur erhöht worden – so viel hat die SPD durchgesetzt –, sondern in einer neuen Kindergrundsicherung gebündelt, müssten wir nicht hilflos gerade auf jene Kinder aus wirtschaftlich schwachen Familien starren, die unter Schließungen von Kindergärten und Schulen am meisten leiden.

Während dieses Pestjahres fühlt sich die große Mehrheit der Bevölkerung in den Händen der Kanzlerin sicher. Ihre persönlichen Beliebtheitswerte und die Umfrageergebnisse ihrer Partei legen davon beredtes Zeugnis ab. Doch es sind die Versäumnisse und die Fehler der CDU/CSU und ihrer Kanzlerin in den vergangenen Jahren, die uns nun auf die Füße fallen. Auf jedem der erwähnten Politikfelder versagen die Unionsparteien, darüber kann der gutgemeinte Krisenaktionismus nicht hinwegtäuschen.

Für die im Konflikt liegenden Akteur:innen, die sich um den richtigen Weg durch die Krise streiten, bedeutet das: Nicht alles, was dieser Tage leichtfertig Corona angelastet wird, hat auch in seiner Tiefe etwas mit der Krise zu tun. Sie ist zunächst und vor allem eine Gesundheitskrise. Erste Prioriät hat demnach der Gesundheitsschutz, vor allem der vulnerabler Gruppen. Diejenigen, die unter der Corona-Pandemie zunächst und vor allem leiden, sind die Kranken.

In dieser Krise treten aber sehr wohl die Versäumnisse der Vergangenheit mit größerer Dringlichkeit zu Tage. Wozu sollte das uns führen? Vielleicht braucht es „nach“ Corona nicht gleich eine andere Gesellschaft, wie sie vor allem von Denker:innen mit zu viel Tagesfreizeit in der Krise (und offenbar ohne familiäre Belastung im Homeoffice) imaginiert wird. Wohl aber müssen wir den Versuch wagen, die sozial- und gesellschaftspolitischen Fehler der Vergangenheit auszuräumen. Der Sozialstaat hält noch. Die immer deutlicher werdenden Bruchlinien weisen auf die Notwendigkeit einer mutigen sozial-demokratischen Reformpolitik hin.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Philipp Greifenstein

freier Journalist und Referent, Twitter: @rockToamna, Redakteur des Magazins für Kirche, Politik und Kultur "Die Eule"

Philipp Greifenstein

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