In seinem Roman Im Schatten zweier Sommer über den Schriftsteller Joseph Roth schreibt der Autor Jan Koneffke über patriarchalische Frauenbilder, Roths Opportunismus, seine Selbstzerstörung, seine Habsburg- und Europafantasien – und entdeckt dabei einen unglaublich reichen Menschen.
der Freitag: Herr Koneffke, Sie sind auf Joseph Roth als einstigen Bewohner des Hauses, in dem Sie in Wien wohnen, gestoßen. Wie kam das?
Jan Koneffke: Nachdem meine Frau und ich unsere Wohnung 2003 bezogen hatten, nahm ich noch einmal das Buch Donau von Claudio Magris zur Hand, das ich bereits nach seinem Erscheinen in den 1980er Jahren gelesen hatte. Doch längst vergessen hatte ich das Kapitel mit der Überschrift: „Rembrandtstraße 35“. Oh, dachte ich, das sin
ich das Kapitel mit der Überschrift: „Rembrandtstraße 35“. Oh, dachte ich, das sind ja wir! Es ist zwar umstritten, ob er bereits in der zweiten Jahreshälfte 1913 überhaupt in Wien lebte, sicher aber ist seine Inskription auf der Wiener Universität für das Sommersemester 1914. Dort hat er die Rembrandtstraße als seine Wohnadresse angegeben. Mittlerweile ist auch Roths erster Wiener Meldezettel vom April 1914 mit der Rembrandtstraße im Internet zu finden. Und da soll man noch an Zufall glauben. Ich musste den Stoff für das neue Buch nicht suchen, er hat mich gefunden.Aber damit hatten Sie ja noch keinen Plan, wie man über Roth schreiben könnte, oder?Das hat gedauert. Ich stellte mir vor, im Stiegenhaus auf den jungen Roth zu treffen, mit ihm zu sprechen. Das war schon Stoff für ein Buch, der sich nicht einfach ignorieren ließ.Haben Sie sich für die Form des Romans entschieden, weil die Aufarbeitung der Roth-Biografie – etwa durch Wilhelm von Sternburg – ziemlich umfassend vorliegt?Mir war von Anfang an klar, dass es ein Roman wird. Ich bin Geschichtenerzähler, kein Biograf. Das Fabulieren verbindet mich mit Joseph Roth. Er hat ja selbst viele Geschichten um sein Leben herum erfunden.Roth behauptete, 1918 als Leutnant aus der k.u.k Armee entlassen worden zu sein. Eine offensichtliche Lüge.Ihm war eine Lust und Leidenschaft eigen, sich fabulierend Fremdzuschreibungen zu entziehen, nicht zuletzt aus der Not als Jude aus Galizien in Wien. Dieses Spiel wurde zur Tugend. Womit ich mich berechtigt fühlte, ihm eine fiktive Figur an die Seite zu stellen und ihn damit selbst ein Stück weit zu fiktionalisieren.Sie erzählen zwei Stationen im Leben Roths: den Sommer 1914 kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs; und den Sommer 1938 in Paris, als er bereits vom Tod gezeichnet ist.1914 steht für den Anfang seiner Erwachsenenjahre, einer persönlichen Entwicklung, die mit dem Scheitern einer Epoche einhergeht, dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches, dem er dann sein Leben lang nachtrauerte. Dieses Scheitern wiederholt sich 1938/39: Nicht unbedingt lebensgeschichtlich, schließlich hat Roth in der Zwischenzeit ein bleibendes Erzählwerk geschaffen. Aber als politisches Scheitern, das durch den sogenannten „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland ratifiziert wird. Es ist das Scheitern Europas, das sich Roth als „Vaterland der Vaterlandslosen“ erträumte. Dann das private, „liebesgeschichtliche“ Scheitern, vor allem mit seiner Frau Friedl. Wichtig war mir die Engführung privater und politischer Erfahrung.Ein Liebesroman dürfte sich im Buchmarkt besser behaupten als eine politische Zeitanalyse. War das eine Überlegung, die Sie zur Liebesgeschichte geführt hat?Mir ist bewusst, dass Liebesgeschichten ein breiteres Publikum finden. Das war aber nicht meine Überlegung. Ich denke beim Schreiben weder an „Lesereffekte“ noch an den Markt. Die Idee zu einer Liebesgeschichte kam mir, als ich in Roths Roman Beichte eines Mörders auf den Satz stieß: „Die Liebe macht uns nicht blind, sondern, im Gegenteil, sehend.“ Das durchfuhr mich wie der Blitz. Klar, mit liebenden Augen sieht man mehr. So imaginierte ich mich in die junge Frau hinein, die ihn von Nahem und verliebt erlebt.Im zweiten Romanteil, der Fannys Tagebuch wiedergibt, lese ich von Roths Bemühen, sich als Jude möglichst unsichtbar zu machen und die Spuren zu seiner Geburtsstadt Brody in Galizien in der heutigen Ukraine zu verwischen. Wie schwer wogen seine antisemitischen Erfahrungen in dieser Zeit?Wien verunsicherte den jungen Roth ja schon deshalb, weil er aus der galizischen Provinz in die Hauptstadt des Habsburgerreiches kam, wo man als „Ostjude“ sogar durch die einheimischen Juden Ablehnung erfahren konnte (diese wird im Roman durch Fannys Mutter verkörpert, als der neue Untermieter einzieht), umso schlimmer von weiten Teilen der nichtjüdischen Bevölkerung. Da lernt man von der Pike auf, sich chamäleonhaft ein anderes Leben zurechtzuschwindeln. Ich sprach bereits von der Not, die ihm zur Tugend wurde …In Roths Roman „Radetzkymarsch“ von 1932 steckt viel Kaisertreue, selbst über den Tod von Franz Joseph hinaus. 1914 allerdings hält er den drohenden Krieg – der wenige Wochen später eintritt – für ein Verbrechen des Kaisers. Wie gehen Sie mit solchen Widersprüchen um?Diese Widersprüche machen ihn als Romanfigur so interessant. Dass er einmal den Kaiser verehrt und dann wieder verspottet, zeichnet seine Romane später aus – die Sehnsucht nach der untergegangenen friedlichen Welt des Habsburgerreiches neben der feinen Ironie, mit der er ihre Eigenarten und Defekte beschreibt.Eindeutig ist Roths extrem konservatives Frauenbild. Mit keinem Satz verrät Roth seinen patriarchalischen Geist mehr als an dieser Stelle: „Unsere Liebe zu Frauen ist unsere Liebe zur Welt, die sie geistig und leiblich von Haus aus vertreten …“ Woher haben Sie sie genommen?Der Satz, den ich mir bei Roth notiert hatte, lautet im Original: „Man liebt nicht die Frauen, man liebt die Welt, die sie repräsentieren.“ Wie Sie sehen, habe ich den Satz nicht wortwörtlich übernommen. Dieses Verfahren, Zitate von Roth aus Briefen, seinen Artikeln, der Prosa meinem Buch sprachlich und rhythmisch einzupassen, anzuschmiegen, ohne den Sinn zu verändern, benutze ich oft. Das patriarchalische Frauenbild findet sich an vielen Stellen, etwa wenn er in einem Brief an Annette Kolb schreibt: „Sie sind die einzige Frau, der es von Gott erlaubt ist, das männliche Handwerk (des Schriftstellers) zu üben.“Im Romanteil, der 1938 in Paris spielt, folgt dem Höhepunkt der Liebesgeschichte ein tragisches Ende, das auch mit der offensichtlich krankhaften Eifersucht Roths zu tun hat. Ist sie verbürgt?Ja, diese krankhafte Eifersucht ist verbürgt. Gegenüber seinen Partnerinnen im Allgemeinen, besonders aber gegenüber seiner Ehefrau Friedl. Das hat ihrer labilen Psyche mit Sicherheit geschadet.Roths letzte Jahre waren vom Alkohol bestimmt. Er starb früh mit 45 Jahren. War es persönliche Schwäche oder konsequente Selbstzerstörung in fremder Umgebung?Wenn Sie mit fremder Umgebung nicht nur Paris meinen, in dem er sein Exil verbrachte, sondern seine Fremdheit in der Umgebung einer verrückt gewordenen, mörderischen, selbstzerstörerischen Welt insgesamt, dann würde ich sagen: Ja. Seine konsequente Selbstzerstörung spiegelt die Selbstzerstörung Europas wider. Roth konnte nur noch unter der Wirkung von Alkohol schreiben. Gleichzeitig wusste er, dass ihm nicht viel Zeit bleibt. Umso schneller schrieb er, umso mehr trank er, umso schneller schrieb er und so weiter.Das Haus in der Rembrandtstraße 35 schmückt seit einiger Zeit eine kleine Gedenktafel, die auf Joseph Roth hinweist. Haben Sie sie angeregt?Ja, ich habe diese Tafel angeregt. Die Stadt Wien war gar nicht damit befasst. Ich schaue sie beim Vorbeikommen immer an – und freue mich einfach!
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.