Nicht mehr leben wollen, wenn man nicht mehr laufen kann? Für Jan Kuhlbrodt ist das „volkssokratisches Gerede“
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Auf meine Frage, warum er seine MS-Erkrankung zum Stoff für seinen Roman Krüppelpassion – oder vom Gehen gemacht hat, sagt er: „Ich hab eigentlich gedacht, der Krankheit nicht auch noch mein Schreiben zu widmen. Merkte aber, dass sie, wenn ich das nicht offensiv angehe, doch irgendwie unkontrolliert in die Texte drängt.“
Die Lektüre seines Romans hat bei mir anteilnehmende Gefühle aufgewirbelt, auch wenn sich das Autor-Ich darin nicht als Opfer der Krankheit beschreibt und mein Mitleid nicht will. Die Anteilnahme stellte sich von allein ein. Ich kenne Jan Kuhlbrodt seit Langem, was, wenn der eine Literaturkritiker ist, der andere Schriftsteller und man in ein und derselben Stadt lebt, nicht ausbleibt. Ich mag seine in klarer, fester Sprache verfass
ter Sprache verfassten Gedichte, die oft Erfahrenes dahin bringen, wo sie die Dichte eines philosophischen Gedankens erreichen. Philosophie war vor dem Studium am Leipziger Literaturinstitut sein erstes Brot. Anfang der 1990er Jahre hatte er, der „Ossi“ aus Karl-Marx-Stadt, dann schon Chemnitz, Philosophie und Soziologie am legendären Institut für Sozialforschung studiert, dem Horkheimer und Adorno in den 1950er Jahren den Rang gaben.Die Welt von Büchern holenJan kann sich schon lange nur mühsam mit Krücken fortbewegen. Als wir zusammen in einer anderen Stadt in einem Beirat für die Stipendienvergabe wirkten, habe ich ihn öfter im Auto mitgenommen und lange auf ihn vor seinem Haus gewartet, bis er oben auf der Vortreppe erschien. Hilfe wollte er nicht, er zeigte sich geschickt in seinen Bewegungen, so eingeschränkt sie waren. Aber weil wir nicht direkt befreundet sind, braucht es Gelegenheiten, uns zu sehen. So wusste ich nicht, dass er inzwischen den Rollstuhl benutzen muss, so vorangeschritten ist seine MS-Erkrankung.Ist es riskant, eine Krankheit, die zum Tode führt, zum Thema zu machen? „Nein“, sagt er, „das Schreiben über die Krankheit macht mich letztlich wenigstens hier zum Souverän.“ – Souverän ist, wenn er sich am Schreibtisch in seinem Zimmer die Welt, die er nicht mehr bereisen kann, von Büchern holt. Der Leser erfährt viel von Kuhlbrodts Gegenarbeit gegen die Krankheit. Er weicht den Fallen, die dabei lauern, nicht aus. Schon am Anfang des Buches erinnert er daran, dass „Freiheit dem Griechen die Freiheit von körperlicher Beschränkung war“. Und nennt ihre Welt die eines „kultivierten Rassismus und Sexismus“, in der schon Sokrates wegen seiner wohlüberlieferten Hässlichkeit nicht bestehen konnte und den Schierlingsbecher anzunehmen hatte.Der studierte Philosoph und studierte Schriftsteller erhebt sich immer wieder aus dem Rollstuhl und zieht den Leser mit in seine Welt letzter Fragen und Antworten. Er zitiert junge, gesunde Menschen mit dem Satz: Eh ich mich nicht mehr regen kann, bring ich mich um! Kuhlbrodt nennt es „volkssokratisches Gerede“, das zerplatzt, wenn die Frage im Ernst steht. Aber der Ernst wird dem Leser nicht erspart: der kaum noch zu kontrollierende Urindrang, die unterbliebene Geburtstagseinladung eines Freundes, weil in seiner Wohnung kein Rollstuhl rollen konnte, das Literaturinstitut, das ihn als Gastprofessor gern anstellte, aber keinerlei Angebot macht, wie er den Seminarraum im Obergeschoss erreichen soll.Das Prinzip des Textes imitiert das Prinzip der Computertomografie. Der Autor macht es ähnlich wie die rotierende Röntgenröhre. Er sieht sich mit der Krankheit von allen Seiten zu. Das macht es, dass Krüppelpassion im üblichen Sinn kein Roman ist, sondern eine Sammlung kleiner Formen aus allen Gattungen: Prosa, Lyrik, Drama, Essay. Kuhlbrodt schreibt literaturtheoretisch ambitioniert und bezieht sich in seiner Romanauffassung auf die Romantik und Friedrich Schlegels Lucinde-Roman, in dem auch Lyrik, Essay und andere Formen benutzt werden. So formt sich in Krüppelpassion ein Gesamtbild des Autors und seiner Krankheit. „Aufklärung“, sagt er, scheint mir in jeder Hinsicht wichtig. Nicht nur hinsichtlich Multipler Sklerose. Und letztlich ist sie ja auch Selbstaufklärung.“Brücken zu Georg TraklWas entsteht, ist etwas viel Komplexeres als der Roman einer Krankheit. Immer wieder kehrt er nach Chemnitz zurück, zu seiner Zeit: Karl-Marx-Stadt, wo er als Halbwüchsiger Kosmonaut werden wollte und mit dem Wunsch bei der Unterschrift zum Berufssoldaten landete. Er hatte es schon bald schwer bereut und sich insgeheim eine Krankheit gewünscht, die ihn für die Armee unbrauchbar macht. Mit solchen Wünschen treibt man keinen Spaß. Er lässt anklingen, dass die tiefe Scham darüber, sich an die Soldaten „verkauft“ zu haben, seine Autoimmunität herabgesetzt und die Krankheit in seinen Körper eingelassen haben könnte. Ein Gedanke ohne Beweiskraft. Wie auch der Umstand, dass seine Mutter bereits an MS erkrankt war und daran „letzten Monat“ verstorben ist. MS soll nicht erblich sein.Spekulativ ist der Roman nicht angelegt. Im Gegenteil, es geht ihm um Klarheit. Der Text gehört ins Genre des Entwicklungsromans. Entstanden ist der Roman des Beginns und des Verlaufs einer Krankheit. Aber dadurch, dass er von einer Krankheit handelt, die dem Kranken die Zukunft stiehlt, nimmt er die Erinnerung ernst. Immer wieder starten kleinste Auslöser ganze Sequenzen, vor allem eine: „In der Erinnerung kann ich gehen, laufen, rennen, springen.“ Damit verbunden die Frage: Wo zeigten sich die Anfänge der Krankheit? Geld fürs Studieren in Frankfurt verdiente er sich als Helfer für MS-Kranke. Damals lauerte die Krankheit bereits in ihm, unwissentlich.Placeholder image-1Auf seinem Weg zum Schriftsteller macht er am Anfang eine Erfahrung: Solange er nicht den autobiografischen Raum verließ, kam er sich nicht wie ein echter Schriftsteller vor. Und in Krüppelpassion – dem Text, der am meisten seinen Lebensstoff benutzt – tut er es. Das belegen die vielfachen Bezüge zur Philosophie, aber auch andere Gedankenarbeit. Er baut die Brücken zu den Gedichten von Georg Trakl nach, die Franz Fühmann in seinem Essay Vor Feuerschlünden Anfang der 1980er Jahre in der DDR geschaffen hat. Kuhlbrodt schreibt, dass er den Schuber mit den beiden in braunes Leinen eingebundenen Bänden schon zwei Jahre besaß, bevor er sich traute, sie zu lesen. Er fühlte sich dem Text, dessen Größe er ahnte und von dem Freunde berichteten, nicht gewachsen. Fühmanns Trakl-Projekt war für viele in der DDR der Fünfziger- und Sechzigerjahre Geborenen ein unvergessliches Erweckungserlebnis. Davon, wie er in Trakls Gedicht Untergang die Einheit von Gegensätzen als das Wesen des dichterischen Wortes beschreibt, fühlt sich Kuhlbrodt angesprochen. Aus Trakls Gedicht gewinnt er ein Leitmotiv für Krüppelpassion: „Der Wahrheit nachsinnen, viel Schmerz.“ – Hinter den noch so ermutigenden Sätzen des Textes steht unausweichlich, dass ihm die Krankheit sein Vergehen vor Augen führt und ihn, den 57-jährigen zweifachen Familienvater, Lebenspartner der Dichterin Martina Hefter, ein Ende des Lebens absehen lässt.Der Autor, der sich mehr und mehr Leben durch Lesen ersetzt, sieht sich in vielen Szenen als junger Mann beim Gehen und weigert sich, sich im Spiegel als totgeweihter Krüppel zu sehen. Es ist unendlich schwer, sich selbst loszuwerden, schreibt er. Immer wieder schleppt er sich in die verkürzten Wege der Krankheit und des Alters. Auf die Frage, ob der Philosoph ihm geholfen hat, eine Passionsgeschichte zu vermeiden, sagt er: „Ganz sicher, Philosophie hilft mir, eine Souveränität zu bewahren, ohne die Tatsachen zu beschönigen oder zu relativieren.“Der Leser wird spüren, dass dem Autor immer wieder der Romantiker in die Quere kommt, der nicht auf der Wahrheit der Krankheit, sondern auf einer poetischen Wahrheit besteht. Damit entzieht er sich in Krüppelpassion dem Protokollieren des Unausweichlichen. Es ist einfach praktisches Gebot und zugleich Bild für das Leben im Rollstuhl, wenn es heißt: „Hast du die Bremsen drin?“ Im Sinn literarischer Qualität erlebt der Leser die Bremsen gelöst, was die Vergabe des Alfred-Döblin-Preises 2023 für das unveröffentlichte Manuskript bestätigt hat. Ganz soll Kritik nicht ausgeblendet sein. An den Autor: ein paar Wiederholungen weniger, an den Verlag: ein paar Druckfehler weniger.Placeholder infobox-1
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