Das Undenkbare denken

NATO Europa hat für die USA an Bedeutung verloren. Und es könnte sich eh selbst verteidigen. Ist die Allianz überhaupt noch nötig?
Ausgabe 50/2019
Danke für alles, aber da ist die Tür
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Foto: Adrian Dennis/AFP/Getty Images

Groß schien die Erleichterung. Der NATO-Gipfel in London hat nicht zum großen Zerwürfnis geführt. Man war sich einig, sich nicht einig zu sein. Etwa bei der Reaktion auf den rechtswidrigen Einmarsch der Türkei in Syrien. Stattdessen verständigten sich die Teilnehmer darauf, weiter aufzurüsten, den Weltraum als Operationsgebiet und China als neue Herausforderung zu betrachten. Gleichwohl wird das Undenkbare denkbar: Eine Welt ohne NATO, aber mit einem souveränen Europa.

Den entscheidenden Anteil daran hat Präsident Trump, der das Bündnis bereits im Vorjahr für obsolet erklärte. Er lobte es zwar diesmal, doch lassen US-Diplomaten keinen Zweifel: Entweder die NATO bewegt sich in die richtige Richtung oder sie verliert ihre Existenzberechtigung. Frankreichs Präsident ließ in London von seiner Diagnose nicht ab, die Allianz sei hirntot. Nicht nur aus Berlin schallte es daraufhin laut: Ohne NATO ist Europa nicht zu verteidigen. Das mag gegenwärtig stimmen, aber was heißt das für die Zukunft?

Das Undenkbare denken war einst der Titel einer Festschrift zum 70. Geburtstag von Egon Bahr am 19. März 1992. Darin ehrten Weggefährten einen Mann, der strategisch denken konnte. Bahr hatte mit seiner Tutzinger Rede von 1963 einen veritablen Strategiewechsel vorgedacht, der statt des Kalten Krieges auf Entspannung und – über Blockgrenzen hinweg – auf gemeinsame Sicherheit in Europa setzte. Ein Ergebnis war die Lösung der deutschen Frage, was freilich daran gebunden war, dass die gesamtdeutsche Bundesrepublik strikt in der NATO verankert blieb. Dann aber mutierte dieser Pakt vom Verteidigungs- zum Interventionsbündnis. Zugleich blieb Europa US-Protektorat. Beides beklagte Bahr bis zu seinem Lebensende 2015.

Trumps Protektorat

Dann geschah etwas Unerwartetes: Donald Trump stellte das Protektorat offen in Frage, indem er de facto die Geltung der Verteidigungszusage mit der Höhe europäischer Verteidigungsetats verband. Es gab dafür zwei Gründe: Europa hat für die USA an Bedeutung verloren, in Washington widmet man sich vielmehr dem Konkurrenten China. Folglich wollen die USA von Europa entlastet und in ihrer Eindämmungsstrategie gegenüber China unterstützt werden. Das heißt, die europäischen NATO-Staaten, allen voran Deutschland, sollen so stark aufrüsten, dass sie in der Lage sind, Russland ohne umfassende US-Hilfe in Schach zu halten. Natürlich bleiben die USA in geringerem Umfang präsent und halten ihre nukleare Schutzzusage aufrecht. So bleibt das geostrategische Interesse gewahrt, die europäische Küste zu kontrollieren, aber mehr Kapazitäten für den Machtkonflikt mit China freizusetzen. Wenn Europas NATO-Staaten dann noch militärisches Potenzial nach Asien verlagern – umso besser. Die Befürworter eines solchen Engagements argumentieren, nur so bliebe das Bündnis langfristig für die USA relevant. Auch müssten im indopazifischen Raum die Seewege gesichert werden. Damit werden nicht nur hohe Kosten in Kauf genommen. Indem man sich im amerikanisch-chinesischen Machtkampf positioniert, wird das Entstehen eines neuen Systemkonflikts gefördert.

Sollte es stimmen, dass die NATO ihre Existenzberechtigung verliert, wenn sie sich nicht nach Asien ausdehnt, dann steht Europa vor der Wahl, sich entweder in die amerikanisch-chinesische Rivalität einzureihen oder selbst für seine Sicherheit zu sorgen. Russland geht seinen Weg, China sowieso, die USA ebenfalls, ob Europa mitzieht oder nicht. Es ist also an der Zeit, das Undenkbare zu denken: Ein Europa, das seinen Vasallenstatus ablegt und seine Sicherheit ohne die NATO gewährleistet.

Sollte es deshalb zur militärische Großmacht werden, die nur das Sicherheitsdilemma wechselseitiger Auf- und Nachrüstung verstärkt? Notwendig wäre vielmehr eine Friedensmacht Europa, die auf hinreichende Verteidigungsfähigkeit und gemeinsame Sicherheit auch mit nichtdemokratischen Systemen setzt. Selbst wenn die EU noch weit davon entfernt ist, ein solches Europa zu sein, könnte Egon Bahrs Formel vom „Wandel durch Annäherung“ eine passende Strategie sein, das Undenkbare nicht nur zu denken, sondern auch umzusetzen.

Hans-Georg Ehrhart promovierte 1986 über Die „deutsche Frage“ aus französischer Sicht . Er ist heute Senior Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik

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