1875 löste ein stark beachteter Artikel in der Berliner Zeitung Post mit dem Titel „Ist Krieg in Sicht?“ eine schwere diplomatische Krise aus. Nach drei siegreichen Kriegen war das Deutsche Reich zwar zur Großmacht im Herzen Europas aufgestiegen, fürchtete jedoch um seine neu gewonnene Position angesichts französischer Rüstungsprogramme und Revanchegelüste. Das Militär drängte auf einen Präventivkrieg, und Bismarck prüfte die zu erwartende Reaktion von Großbritannien und Russland durch eine Pressekampagne. Diese verdeutlichte ihm, dass die beiden Großmächte Frankreich im Falle eines deutschen Angriffs unterstützen würden. Daraus schloss er, dass Deutschland sich als saturierte Macht verstehen muss, die a
muss, die auf eine Politik des Gleichgewichts statt auf Krieg setzt. Leider verließen seine Nachfolger diese Linie und bahnten so den Weg zum Ersten Weltkrieg.Im Ukrainekonflikt haben wir es mit zwei Krieg-in-Sicht-Krisen zu tun. Die eine ist bereits eskaliert, denn nach dem russischen Angriff vom 24. Februar 2022 tobt seit nunmehr fast einem Jahr Krieg. Seine Kosten an Menschen und Material sind enorm, ein Ende ist nicht in Sicht. Zu sehr sind die direkten Protagonisten und ihre Unterstützer darauf fixiert, die Entscheidung auf dem Schlachtfeld zu suchen. Im Gegensatz zu 1875 gab es vor dem Angriff keinen aktiven Politiker, der die aufziehende Kriegsgefahr kommen sah und die richtigen politischen Schlüsse daraus zog. An Warnungen ehemaliger Politiker und Diplomaten, wie Henry Kissinger, Daniel Patrick Moynihan oder George Kennan, hat es seit der ersten Erweiterungsrunde der NATO allerdings nicht gemangelt.Dass die Ukraine eine besondere geostrategische Bedeutung für Russland hat, hatte bereits Boris Jelzin betont. So wie für die USA de facto immer noch die Monroe-Doktrin gilt, die Lateinamerika zur exklusiven amerikanischen Interessensphäre erklärt, so gilt das Gleiche aus russischer Sicht für die Ukraine. Dennoch beschloss die NATO auf ihrem Gipfel in Bukarest 2008 grundsätzlich, das Land – neben Georgien – aufzunehmen. Kurz darauf begann der Georgien-Krieg. 2014 unterstützte die Obama-Administration offen und erfolgreich die pro-westlichen Kräfte in der Ukraine. Moskau annektierte anschließend die Krim und intervenierte verdeckt im Donbass. Die negative Reaktion des Westens auf die beiden russischen Entwürfe für Sicherheitsabkommen mit den USA und der NATO vom 17. Dezember 2021, die bei den in Aussicht genommenen Vertragspartner im Westen auf Ablehnung stießen, nahm Moskau zum Anlass, die Ukraine offen anzugreifen mit dem Ziel, sie politisch zu unterwerfen.Militärische Konfrontation mit Russland verhindernDass Moskau mit seinem Angriffskrieg gegen geltendes Völkerrecht verstoßen hat, ist ebenso unbestreitbar wie die Tatsache, dass die westliche Politik einen unrühmlichen Anteil an seiner Vorgeschichte hat. Wahrscheinlich hätte der Einmarsch nicht stattgefunden, hätte der Westen eine andere Ukrainepolitik verfolgt. Das rechtfertigt natürlich nicht das russische Vorgehen, führt aber zu der zentralen Frage, ob der Westen die anstehende zweite Krieg-in-Sicht-Krise so bewältigen kann, dass eine direkte militärische Konfrontation mit Russland verhindert wird. Die Zeichen dafür stehen nach den nunmehr angekündigten Panzerlieferung aus den USA, Deutschland und anderen NATO-Staaten aus jeweils drei Gründen nicht gut. Russland hat sein geopolitisches Interesse, die Ukraine in seinem Einflussbereich zu halten, bislang nicht erreicht. Ob es sich mit der Annexion der vier ukrainischen Gebiete, sollte es sie einmal komplett beherrschen, zufriedengeben wird, ist unsicher. Innenpolitisch geben die nationalistischen Kräfte den Ton an, und es fehlt der gesellschaftliche Druck für ein Kriegsende. Die Verfassung verbietet die Aufgabe russischen Territoriums, wozu nach Moskauer Lesart jetzt auch die annektierten Gebiete gehören.Die Ukraine hat ihr Ziel der Wiederherstellung der territorialen Integrität durch Vertreiben des Aggressors noch nicht erreicht. Sie hat das Völkerrecht auf ihrer Seite und ordnet in Dekret 117/21 vom 11. März 2021 die Rückgewinnung der besetzten Gebiete an. Drei Viertel der Bevölkerung sind derzeit gegen den Verzicht auf nationales Territorium. Die Ukraine erhält zunehmend leistungsfähigere Waffensysteme und anhaltende politische und wirtschaftliche Unterstützung.Krieg in SichtDer von der USA geführte Westen ist Russland militärisch, technologisch und wirtschaftlich überlegen. Er setzt auf die Schwäche Russlands und auf anhaltende gesellschaftliche Unterstützung seiner Ukraine-Politik, was nicht gesichert erscheint. Zudem will er demonstrieren, dass sich ein Angriffskrieg nicht lohnen darf.Noch testen alle Beteiligten, wie weit sie gehen können. Wenn sich der Krieg aber länger hinzieht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er horizontal (geografisch) und vertikal (nuklear) eskaliert. Angesichts dieser Lage ist Krieg in Sicht. Bismarcks Krisenbewältigung bestand darin, das Deutsche Reich als saturierten Staat zu erklären. Die anderen Großmächte nahmen die Annexion von Elsass-Lothringen hin, machten aber klar, dass sie bei einem weiteren Waffengang Berlins aktiv auf der Seite Frankreich stehen würden. Auf den heutigen Konflikt bezogen heißt das: territoriale Zugeständnisse an Russland und militärische Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Dafür bräuchten Washington, Moskau und Kiew allerdings die Einsicht, dass Maximalziele in die Katastrophe führen und stattdessen Selbstbeschränkung und Mut zum fairen Kompromiss erforderlich sind. Auf allen Seiten überwiegt aber gegenwärtig das, was die Historikerin Barbara Tuchman als Torheit der Regierenden beschrieb: scheinbare Alternativlosigkeit, Überschätzung der eigenen Macht und Handeln gegen die eigenen Interessen.