Nicht erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wird in Deutschland ein Narrativ gepflegt, das komplexe historische Zusammenhänge verzerrt darstellt, um zu einfachen Erklärungen zu kommen. So machte der Spiegel jüngst mit der Schlagzeile auf: „Der Tag, an dem der Krieg begann. Rekonstruktion eines fatalen Irrtums“. Kernthese des Artikels ist die Behauptung, dass der Ukraine-Krieg eigentlich bereits 2008 auf dem NATO-Gipfel in Bukarest hätte verhindert werden können, wenn sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy nicht gegen die Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die NATO gestellt hätten.
Der Autor konzediert gute Absichten, unterstellt aber Naivität und urteilt, sie müssten mit de
müssten mit dem Verdacht leben, die Ukraine und Georgien „am Ende preisgegeben zu haben“. Diese Einschätzung verwundert, weil der Spiegel all die Gründe aufführt, die die deutsche Haltung richtigerweise begründeten.So war die Ukraine ein hochkorruptes Land, das beim Korruptionsindex von Transparency International auf Rang 134 lag. Es war politisch instabil, und mehr als die Hälfe der Bevölkerung war gegen einen NATO-Beitritt. Es gab Konflikte zwischen nationalistischen Ukrainern im Westen und ethnischen Russen im Osten. Das Land war ökonomisch heruntergewirtschaftet und militärisch schwach. Es erfüllte nicht die von der NATO definierten Kriterien für einen Beitritt, vor allem versprach es keinen Zugewinn an Sicherheit.Führende aktive US-Diplomaten und -Minister sprachen sich aus guten Gründen gegen einen Beitritt aus. US-Botschafter Williams Burns etwa kabelte aus Moskau, eine NATO-Mitgliedschaft sei die breiteste aller roten Linien für Russland. Verteidigungsminister Robert Gates pflichtete ihm mit der Einschätzung bei, ein Kalter Krieg in Europa sei genug. Weitere Argumente waren, dass Sicherheit in Europa nicht ohne Russland zu haben sei und der Westen Russland bei vielen anderen Themen brauche.Gleichwohl blies US-Präsident George W. Bush, unterstützt von den mittel- und osteuropäischen Staaten, zum Showdown und setzte insbesondere Merkel unter großen Druck. Er tat das aus ideologischen und machtpolitischen Gründen. Es ging ihm und seinem neokonservativen Einflüsterer, Vizepräsident Dick Cheney, um Demokratie-Export und um die Stärkung der US-Hegemonie. Der anschließende kurze Georgien-Krieg zeigte dann allerdings, dass auch die Falken in Washington nicht bereit waren, für Georgien einen Krieg mit Russland zu riskieren.Wenn Merkel 2008 einen fatalen Irrtum begangen hat, dann bestand er darin, dass sie ihre ablehnende Haltung, die immerhin von insgesamt zwölf der 26 Mitgliedstaaten geteilt wurde, nicht durchhielt. Sie akzeptierte stattdessen einen Kompromissvorschlag, der grundsätzlich die Tür zur NATO öffnete, allerdings ohne ein Datum zu nennen und ohne den Aktionsplan für die Mitgliedschaft in Gang zu setzen.Rückblickend lässt sich eher mutmaßen, dass das Scheitern des Minsk-II-Abkommens ein entscheidender Schritt hin zum Krieg war. Das Abkommen sah unter anderem Verhandlungen über einen Autonomiestatus für die beiden ostukrainischen Gebiete Lugansk und Donezk im Rahmen des ukrainischen Staates vor. Wie Präsident Petro Poroschenko bereits 2015 erklärte und Altkanzlerin Merkel 2023 in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit bestätigte, haben beide den Minsk-Prozess bloß als Mittel benutzt, um Zeit dafür zu gewinnen, die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine zu verbessern. Hätten die ukrainische Seite und Merkel ernsthaft verhandelt, hätte der russische Angriffskrieg vielleicht verhindert werden können.Nein, Bukarest 2008 war nicht „eine Art Urkatastrophe der deutschen Russlandpolitik“, wie der Spiegel suggeriert. Die wirkliche Urkatastrophe – mit diesem Begriff beschrieb der US-Diplomat und Historiker George F. Kennan die Grauen des Ersten Weltkriegs – liegt noch vor uns, wenn es nicht gelingt, den Ukraine-Krieg zu beenden.