Nord-Stream-Anschlag: Ist die Andromeda-Spur am Ende zu schön, um wahr zu sein?
Sabotage Ein Jahr nach dem Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines gehen deutsche Ermittler und Leitmedien einmütig von einer ukrainischen Täterschaft aus. Dabei gibt es viele offene Fragen, etwa zur Rolle der USA. Die Bundesregierung schweigt
Spürhunde erschnüffelten Sprengstoff an Bord: Die Segeljacht Andromeda gilt vielen als Schlüssel zur Wahrheit über die Anschläge auf die Nord-Stream-Pipelines.
Foto: Sean Gallup/Getty Images
Ein Jahr ist vergangen, seit mehrere gewaltige Explosionen die Nord-Stream-Pipelines auf dem Grund der Ostsee zerstörten. Der Spiegel nannte den Anschlag auf das „Rückgrat der deutschen Energieversorgung“ den „bedeutendsten Sabotageakt in der europäischen Geschichte“.
Das mag übertrieben sein, doch die Untertreibung des Anschlags durch die Bundesregierung ist nicht minder absurd. Es gab keinen Aufschrei der Empörung, keine Rache- und Vergeltungsschwüre, keine Mobilmachung für einen weltweiten „War on Terror“. Man stelle sich vor, die Sprengung wäre vor den Toren New Yorks erfolgt. Der US-Präsident hätte sofort Artikel 5 des NATO-Vertrags aktiviert und den Bündnis- und Verteidigungsfall ausgerufen. In
h vor, die Sprengung wäre vor den Toren New Yorks erfolgt. Der US-Präsident hätte sofort Artikel 5 des NATO-Vertrags aktiviert und den Bündnis- und Verteidigungsfall ausgerufen. In Deutschland nichts dergleichen. Es blieb bei dem monoton vorgetragenen Hinweis, man müsse die laufenden Ermittlungen abwarten: Gehen Sie bitte weiter, hier gibt es nichts zu sehen!Seymour Hersh bezichtigt Joe BidenVier ganze Monate lang wurde das Thema totgeschwiegen, von der Politik wie von den Medien. Das Aufklärungsinteresse war gleich null. Erst als der steinalte US-Reporter Seymour Hersh am 8. Februar 2023 seine spektakuläre Rekonstruktion des Anschlags vorlegte und den US-Präsidenten des Staatsterrorismus bezichtigte, kam Bewegung in die Sache.Wie auf Kommando verbreiteten sich plötzlich Alternativ-Erzählungen: Nicht die USA seien verantwortlich, sondern Russland oder die Ukraine steckten hinter der Tat. In seltener Einmütigkeit legten sich die führenden Leitmedien fest. New York Times, Washington Post, Zeit, Spiegel, Süddeutsche Zeitung, ARD und ZDF erklärten: Alle Spuren führen nach Kiew. Die Sprengung sei wohl eine Aktion ukrainischer Militärs gewesen, mit oder ohne Billigung der Armeeführung.Geheimdienst-GerauneDie Medien stützten sich dabei nur zu einem geringen Teil auf eigene investigative Recherchen, meist verließen sie sich auf die Einflüsterungen und das Geraune anonym bleibender Geheimdienst-Mitarbeiter und staatlicher Ermittler. Denen, so hieß es viel- und nichtssagend zugleich, sei mehr bekannt, als sie öffentlich zugeben wollten.Zugegeben wird, dass der niederländische Militärgeheimdienst MIVD bereits im Juni 2022 warnte, ein sechsköpfiges Team aus der Ukraine plane einen Anschlag auf die Ostsee-Pipelines während des NATO-Manövers Baltops 22 und wolle dafür ein Boot mieten. Die Angaben des Informanten aus der Ukraine seien detailliert und glaubwürdig gewesen, sie wurden deshalb an die CIA und den BND weitergegeben. Während der BND das Kanzleramt erst verspätet informierte, seien die US-Kollegen sofort in Kiew vorstellig geworden und hätten von einem Anschlag abgeraten: Tut es nicht, um Himmels willen!An Petro Poroschenkos GeburtstagDieser Teil der Erzählung entbehrt nicht einer gewissen Komik. Die Weltmacht USA habe die vollständig von US-Hilfe abhängige Ukraine „gebeten“, einen Terroranschlag gegen ein NATO-Mitglied nicht auszuführen? Und diese Weltmacht, die in der Ukraine mit einer ganzen Brigade von Geheimdienstlern und Beratern vertreten ist, habe nicht mitbekommen, dass der Anschlagsplan – gegen den Rat der USA – weiterverfolgt und am 26. September, an Ex-Präsident Petro Poroschenkos Geburtstag, durchgeführt wurde?In der Version von Seymour Hersh gibt es eine Stelle, die zu dieser Verschiebung passen würde. Angeblich, so Hershs anonymer CIA-Informant, habe US-Präsident Joe Biden plötzlich Bedenken geäußert und gefordert, die Fernzündung des Sprengstoffs nicht kurz nach der Baltops-Übung, sondern zu einem späteren Zeitpunkt auszulösen. Hat die Information der Niederländer die CIA-Planungen gestört?Die deutschen Ermittler und die ihnen ergebenen Leitmedien folgen aufgrund des MIVD-Berichts ausschließlich der Ukraine-Spur. Daher gilt ihnen die am 6. September 2022 von einer sechsköpfigen Crew in Warnemünde angemietete Segeljacht Andromeda als Schlüssel zur Wahrheit. Der von Spürhunden dort erschnüffelte Sprengstoff sei mit den an den Pipelines sichergestellten Resten identisch. Was die Schweden, die als Erste am Tatort waren, sonst noch sichergestellt haben, verraten sie nicht, denn Schweden will – aus fadenscheinigen Gründen – nicht gemeinsam mit den Deutschen ermitteln. Staatsanwalt Mats Ljungqvist, der seine Ergebnisse eigentlich im September vorlegen und sogar Anklage erheben wollte, hat das jetzt vage auf das Jahresende verschoben. Es sei eben kompliziert, raunt er.Die Andromeda-Jacht im polnischen KolbergAuch Polen, dessen Ex-Außenminister Radek Sikorski die Pipeline-Sprengung bejubelte („Thank you, USA!“), ist nicht gerade auskunftsfreudig, was den Aufenthalt der Andromeda-Jacht im polnischen Kolberg am 19. September betrifft. Der Zoll habe die Crew überprüft, aber ein Protokoll darüber gibt es offenbar nicht. Ist die Andromeda-Spur am Ende zu schön, um wahr zu sein?Die anhaltende Spekulationslust wirft jedenfalls ein Schlaglicht auf die Art und Weise, wie die Bundesregierung mit dem Fall umgeht. Sie verweigert die Aussage, stellt keine Rechtshilfeersuchen an andere Länder, setzt niemanden unter Druck. Sie tut so, als sei dieses Staatsverbrechen nur eine peinliche Angelegenheit. Kein Wunder, dass das Ansehen der Regierung auf einem Tiefpunkt ist.Eingebetteter Medieninhalt
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