Der anstehende NATO-Gipfel in der litauischen Hauptstadt Vilnius am 11. und 12. Juli könnte ein bedeutender werden, vergleichbar mit dem von Bukarest im Sommer 2008. Damals einigten sich die Bündnismitglieder auf den Grundsatzbeschluss, die Ukraine und Georgien eines Tages in die Allianz aufzunehmen. Deutschland und Frankreich verhinderten dessen Konkretisierung, indem sie sich dagegen aussprachen, den „Aktionsplan für die Mitgliedschaft“ (eine Art Fahrplan) einzuläuten. Während die USA, damals vom Präsidenten George W. Bush regiert, aufs Tempo drückten, bremsten Berlin und Paris in der Sorge, Moskau übermäßig zu provozieren.
Aber der Schaden war angerichtet, der Grundstein für eine Rutschbahn in den Krieg gelegt. Es folgten
Es folgten der Georgien-Krieg im gleichen Jahr, die Annexion der Krim und die verdeckte Intervention in der Ostukraine 2014, schließlich Russlands Angriffskrieg ab Ende Februar 2022. Der Bukarester Beschluss ist gewiss keine Rechtfertigung für das völkerrechtswidrige Verhalten Moskaus, gehört aber zur Geschichte eines eskalierenden Machtkonflikts zwischen dem Westen und Russland, der in Vilnius neue Höhen erklimmen dürfte.Druck der HardlinerDer große weiße Elefant im Konferenzraum ist die Aufnahme der Ukraine in die NATO. Dass darüber keine Entscheidung zu erwarten ist, hat Generalsekretär Jens Stoltenberg bereits im Vorfeld gebetsmühlenhaft klargestellt. Wie sollte das auch gehen, wollen die Mitglieder nicht gegen die selbst gesetzten Regeln verstoßen? Zwar kann nach Artikel 10 des NATO-Vertrages jeder in Europa gelegene Staat Mitglied werden, sofern er in der Lage ist, die Grundsätze der Allianz zu erfüllen.Eine Studie, die das Bündnis 1995 angesichts einer ersten Erweiterungsrunde erarbeiten ließ, formuliert ebenso wie der „Aktionsplan für die Mitgliedschaft“ die Erwartung, dass Aspiranten neben Kriterien wie Gewähr von Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechten zuvor ethnische oder territoriale Streitigkeiten gelöst haben müssen. Das allerdings hindert neun mittel- und osteuropäische NATO-Staaten und manchen westlichen Thinktank nicht daran, eine baldige Aufnahme der Ukraine zu fordern. Sie üben immer wieder Druck aus, mit dem Argument, nur so könne Kiews Sicherheit garantiert werden. Die Mitgliedschaft sei allen anderen erwogenen Möglichkeiten – Teilung des Landes, Neutralität, Aufrüstung zum unüberwindbaren Bollwerk – vorzuziehen.Was die USA und Deutschland nicht wollenDass in der Ukraine gegenwärtig ein Krieg tobt, hält man für ein „respektables“ Gegenargument, das einer Mitgliedschaft aber nicht im Wege stehen dürfe. Schließlich könne man die NATO-Beistandsgarantie nach Artikel 5 zunächst nur auf die unter ukrainischer Kontrolle stehenden Gebiete anwenden und müsse Russland ansonsten glaubhaft signalisieren, dass es im Fall eines Angriffs eine nuklear abgedeckte konventionelle Antwort riskiere. Die Konsequenz dieser Logik lautet: auf der Rutschbahn zum direkten westlichen Kriegseintritt bleiben und ganz unten ankommen. Das wollen aber vor allem die beiden größten Unterstützer Kiews nicht – die USA und Deutschland.Das wissen natürlich auch die Hardliner, die zumindest eine klare Zusage unter Verzicht auf die Zwischenstufe „Mitgliedschaftsaktionsplan“ oder eine offizielle Beitrittseinladung verlangen. Die Moderaten stellen sich hingegen eher andere Zwischenschritte vor: weniger bindende bilaterale Sicherheitszusagen, ein langfristiges Unterstützungspaket, eine Aufwertung der NATO-Ukraine-Kommission zu einem NATO-Ukraine-Rat. Obwohl es so aussieht, als käme ein Beitritt der Ukraine erst nach dem Ende des Krieges in Betracht, sind sich die NATO-Partner darüber nicht einig und ringen mit schweren Zielkonflikten. Je weiter der Militärpakt sich in Richtung Mitgliedschaft öffnet, desto größer die Gefahr, direkter Kriegsteilnehmer zu werden.Beitritt nach dem Krieg?Legt man sich auf einen Beitrittstermin nach Ende des Krieges fest, erhöht das für Moskau wiederum den Anreiz, die Kampfhandlungen möglichst lange köcheln zu lassen, um einen Beitritt zu verhindern. Gleiches gilt für das Aufnahmekriterium „kein Territorialkonflikt“. Erhält man es aufrecht, spielt das Moskau in die Hände. Übergeht man es, rückt ein Kriegseintritt näher. Darum ist anzunehmen, dass die NATO in Vilnius zwar weiter geht als 2008 in Bukarest, aber vor einer offiziellen Einladung zurückschreckt. Das könnte sich freilich je nach Verlauf des Krieges ändern, etwa wenn die ukrainische Gegenoffensive scheitert und das Bündnis vor der Frage steht, wie es weitergehen soll.Derweil treibt die NATO die auf dem letzten Gipfel beschlossene militärische Strukturreform voran. In Vilnius will sie Regionalpläne vorlegen, die die Verantwortlichkeiten und die Kräfte – insgesamt 300.000 Mann – festlegen, die eine Nation dauerhaft für ein bestimmtes Gebiet bereitzuhalten hat. Deutschland leitet bereits einen „vorgeschobenen Gefechtsstand“ in Bataillonsstärke im litauischen Rukla. Dem wird eine in Deutschland stationierte und schnell verlegbare Kampfbrigade zugeordnet. Sie soll demnächst sogar dauerhaft dort stationiert werden. So äußert sich jedenfalls Verteidigungsminister Boris Pistorius zum Erschrecken seiner Fachleute. Die sind gerade voll damit ausgelastet, die bis Ende 2024 zugesagte, voll einsatzfähige Division auf die Beine zu stellen. Für eine dauerhafte Stationierung einer Brigade fehlen noch alle Voraussetzungen, so Insider, vor allem Personal und Geld, dazu die Infrastruktur für Tausende von Familienangehörigen, die mitgehen würden.Aber am Geld lässt Pistorius nichts scheitern. So bekräftigt er die Absicht, das Zwei-Prozent-Ziel der NATO bereits im nächsten Jahr – dank der 100 Milliarden Euro Sondervermögen – zu erreichen und zu halten. Das dürfte schwierig werden, denn das heißt: Jahr für Jahr mindestens 20 Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr. Gleichwohl teilt der Verteidigungsminister die Einschätzung seines US-Kollegen Lloyd Austin, dass es sich bloß um eine Untergrenze handele und „in the long run“ viel mehr Geld für die Verteidigung nötig sei. Die Rede ist von zweieinhalb oder gar drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Rutschbahn in den Krieg wird offenbar noch viel teurer.