Bei der Taurus-Frage gilt, Vertrauen ist gut, aber Kontrolle besser
Meinung Wenn Briten und Franzosen die Zielprogrammierung ihrer an die Ukraine gelieferten Marschflugkörper nicht aus der Hand geben, warum sollte Deutschland das dann tun? Wer kann ausschließen, dass Kiew notfalls von gemachten Zusagen abweicht?
Im Bundestag soll über die Lieferung der Taurus-Marschflugkörper in die Ukraine abgestimmt werden
Foto: Karl-Josef Hildenbrand/picture alliance/dpa
Die Lebensweisheit „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ wird dem sowjetischen Politiker Wladimir Iljitsch Lenin zugeschrieben.Das kann konkret heißen,sich nicht auf mündliche oder schriftliche Zusagen allein zu verlassen, sondern die Kontrolleselbstzu behalten. Das gilt besonders für den Einsatz von Waffensystemen wie dem Marschflugkörper Taurus, der über besondere Fähigkeiten verfügt und dessen Einsatz weitreichende politische und militärische Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Das Risiko eines Einsatzes kann man natürlich unterschiedlich einschätzen.Da geht es nichtum den Unterschied zwischen Sesselstrategen in deutschen Talkshows und dem Bundeskanzler, der eidlich verpflichtet ist,seine Kraft dem Wohle des deutsc
ko eines Einsatzes kann man natürlich unterschiedlich einschätzen.Da geht es nichtum den Unterschied zwischen Sesselstrategen in deutschen Talkshows und dem Bundeskanzler, der eidlich verpflichtet ist,seine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden.Es geht vielmehr um unterschiedliche Risikoeinschätzungen unterhohenpolitischen Verantwortungsträgern, wie etwa dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und Olaf Scholz. Die Dramatik dieser unterschiedlichen Sichtweisen rührt daher, dass sieletztlicheine Frage vonKrieg und Friedenbetrifft. Seit Januar drängt Macron–zuerst diplomatisch und leise, dann undiplomatisch und laut–darauf,darüber nachzudenken, ob man nicht Bodentruppen zur Abschreckung in die Ukraine entsenden sollte.Er wolleebenkeine Optionausschließen, so Macron.Doch Scholz bleibt stoisch bei seiner Linie, bei der es ihm um Kontrolle geht.Wenn die Briten und Franzosen die Zielprogrammierung nicht aus der Hand geben, warum sollte Deutschland das dann tun? Wer kann ausschließen, dass Kiew in einer militärischen Drucksituation von vorher gemachten Zusagen abweicht?Die „New York Times“ berichtete zuletzt über wachsenden, wechselseitigen Frust zwischen Washington und KiewWenn Scholz sich aber trotzdem eines Tages für die Lieferung des Taurus und damit verbunden die Entsendung deutscher Soldaten entscheidenwürde, müsste er vorher ein Mandat des Bundestages einholen. Die Angelegenheit würde auf offener Bühne debattiert, und die Spaltung zwischen politischer Klasse und einem Großteil der Bevölkerung, die einer Lieferung ablehnend gegenübersteht, wäre vertieft.Auch das will Scholz vermeiden.Dievon der CDU/CSU-Opposition in dieser Woche im Bundestag erneutveranlasste Abstimmungüber die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpernmachtezweierlei deutlich: Sie ist offenkundig bereit, höhere Risiken einzugehen, der Kanzler hingegen ist es nicht. Und das aus gutem Grund, denneine direkte Kriegsteilnahmebedeutet vor allem eines: Kontrollverlust.Wie schwer es ist, von außen auf das Kriegsgeschehen einzuwirken, zeigen die Unstimmigkeiten zwischen der Ukraine und ihrem wichtigsten Partner USA. Die New York Times berichtete zuletzt über wachsenden wechselseitigen Frust. Dabei geht es nicht nur um die dramatischen Wirkungen der republikanischen Blockade des60Milliarden Dollar umfassendenamerikanischen Hilfspakets, sondern vor allem umumstrittene militärische EntscheidungenKiews. Während das Pentagon von Beginn an dazu riet, sich auf einen Durchbruch im Süden des Landes zu konzentrieren, verzettelte sich die ukrainische Führung in mehreren Angriffskeilen und in verlustreichen Kämpfen um Städte von geringerer strategischer Bedeutung. Jüngstes Beispiel ist der Fall der StadtAvdiivkaim Februar, um die von der ukrainischen Armee nach Einschätzung von US-Militärs zu langeund mit zu hohen Verlustengekämpft wurde. Bereitsnach dem Scheitern der Gegenoffensive im Vorjahr wollte Präsident Wolodymyr Selenskyjnicht auf den amerikanischen Rat hören. Während das Pentagondavon ausging, dass der mittlerweile entlassene GeneralWaleriSaluschnyjden Rat annehmenwollte,musste man erfahren,dass der ukrainische Staatschef dazu nicht bereit war.Der zog es vor, seinen obersten Militär zu entlassen unddurcheinen neuen, ihmergebeneren Generalzu ersetzen. Selenskyj möchte Erfolge sehen, möglichst ohne dass die Amerikaner oder andere Unterstützer ihm reinredenGeneralOleksandrSyrsky,der in Russland ausgebildet wurde und der alten Denkschule der Kriegführung angehört,führte die ukrainische Armee in der verlustreichen Schlacht um Bachmut.Seine auf Abnutzung des Gegners angelegte Operationsführung brachte ihm den Spitznamen „der Metzger“ ein.Er hat nun das Oberkommando zu einem Zeitpunkt übernommen, zu dem die Ukraine unter großem militärischem Druck steht, und der Präsident in der nächsten Gegenoffensive – nach dem erhofften Ende der republikanischen Blockadeim Kongress –Erfolge sehen will, möglichst ohne, dass die Amerikaner oder andere Unterstützer ihm reinreden.Die USA halten derweil ihre weitreichenden Marschflugkörper und Raketenweiterhinzurück.Das könnte sich ändern, wenn die Ukrainer aufihreWunschstrategie eingehen: Konzentration der Kräfte im Südenmit dem Ziel,die Landbrückezu erobern, umRussland aufderKrim militärisch unter Druck zu setzen.Damit böte sich für Kiew eine ideale Voraussetzung fürWaffenstillstandsverhandlungen.Die Krim zurückzuerobern dürfte nicht die oberste Priorität Washingtons sein, nachdem es im Oktober 2022 seinen „Armageddon-Moment“ erlebt hat, als Moskauin einer Situation militärischer Schwächeernsthaft den Einsatz taktischer Nuklearwaffen erwog.Zudem würde sich ein Waffenstillstand gut für Bidens Wahlkampf machen.Spätestens wenn die USA ihre weitreichenden Systeme liefern, müsste Olaf Scholz seine Haltung zum Taurus wohl überdenken.Vielleicht jedoch kriegt er die Kuh vorher vom Eis. Die von Großbritannien ventilierte Idee eines Ringtausches, bei dem Berlin Taurus-Marschflugkörper nach London liefert und London dafür britische Storm Shadows an die Ukraine, würde den Druck auf den Kanzlerfreilichnicht beenden. Dazu käme eswohl erst, wenn London die von Berlin gelieferten Taurus nach Kiew weiterreichen würde.Ob die Bundesregierung dazu bereit wäre, bliebe abzuwarten. Der Kanzlertrüge dannjedenfallskeine direkte VerantwortungmehrfürdenEinsatzdieser Waffenund deutsche Soldaten müssten nicht in die Ukraine– und er behielte die Kontrolle über die rote Linie zur deutschen Kriegsbeteiligung.
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