„Diesseits der Mauer“ von Katja Hoyer: War die DDR gar nicht so übel?

Aufarbeitungsdebatte Ilko-Sascha Kowalczuk hat Katja Hoyers hoch gelobte Studie „Diesseits der Mauer“ gelesen. Dass man Alltag und Diktatur voneinander trennen könnte, hält er für einen großen Trugschluss. Historiker sollten analysieren, nicht nacherzählen
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 19/2023
Katja Hoyer fragt in ihrem Buch zum Beispiel nicht, was politische Propaganda in den Schulen, den Medien, an der Universität, bei der Armee, wo auch immer, mental, kulturell, intellektuell angerichtet hat
Katja Hoyer fragt in ihrem Buch zum Beispiel nicht, was politische Propaganda in den Schulen, den Medien, an der Universität, bei der Armee, wo auch immer, mental, kulturell, intellektuell angerichtet hat

Foto: Günter Gueffroy/picture alliance/ZB

In diesen Tagen erschien erst in England, dann in Deutschland ein Buch von der Historikerin Katja Hoyer über die DDR, das noch vor Erscheinen für Aufsehen sorgte. Weitere Übersetzungen sind angekündigt. Der deutsche Verlag bewirbt das Buch mit „bahnbrechend“. In England wie Deutschland ist es sofort ein Bestseller geworden. Allerorten wird es gelobt – allerdings haben sich bislang kaum Kommunismus- und noch weniger DDR-Experten zu dem Buch geäußert. Das fast einhellige Lob erscheint bei nüchterner Betrachtung wie eine PR-Kampagne. Bei näherer Betrachtung bleibt nicht viel, was das Buch überzeugend erscheinen lässt.

Bevor es zum Buch geht, muss man zunächst seine Machart verstehen

Im Zuge des Dekolonisierungsprozesses sind Anfang der 1960er Jahre sozialwissenschaftliche Modernisierungstheorien revitalisiert worden. Es wurde angenommen, dass sich in unterschiedlichen Graden die nun unabhängigen Staaten nach westlichen Modellen entwickeln und dazu auch animiert werden würden. Die globale Systemauseinandersetzung zwischen „West“ und „Ost“ brachte einige Modernisierungstheoretiker ins Grübeln, weil die kommunistische Welt in den 1960er Jahren eine neue Attraktivität zu entfalten schien. Es ging nicht mehr nur um die Zukunftsverheißungen der Kommunisten, die anziehend auf viele wirkten, oder um die heroischen Anteile der Sowjetkommunisten an der Niederschlagung des Nationalsozialismus, nun schienen die kommunistischen Systeme im Ostblock nach den harten Terrorjahren der 1950er Jahre und dem eigentlichen Terrorhöhepunkt – dem Bau der Mauer, wodurch 17 Millionen Menschen auf einen Schlag im größten Freiluftgefängnis Europas eingesperrt wurden – innenpolitisch entspannter zu werden.

Die Gesellschaften wurden besser versorgt. Nicht nur die Lebensmittelversorgung oder die Konsumangebote verbesserten sich spürbar, auch die Freizeitangebote wurden attraktiver, insgesamt nahmen viele Menschen die alltägliche Gängelei durch den Staat weniger belastend wahr. Das galt nicht nur für die DDR, auch für die CSSR oder Ungarn war das zu konstatieren. Das stellte viele Theorien vor ein Problem, schien doch der Staatssozialismus stabil und durch innere Annahme auf neue Art legitimiert. In diesem Kontext gewannen Konvergenztheorien eine neue Bedeutung: Käme es zu einem theoretischen und praktischen „Drittem Weg“, der „positive Seiten“ des Kapitalismus und des Sozialismus aufnehmen und in einem neuen System vereinen könnte?

Es blieb nicht bei theoretischen Überlegungen. In der Bundesrepublik etablierte sich in dieser Zeit eine neue Forschung, die die DDR als neuen Typus einer modernen Industriegesellschaft entwarf. Dieser Ansatz verzichtete darauf, die DDR als Diktatur darzustellen. Mit seiner Hilfe sind Alltagsschilderungen verbreitet worden, die einen Normalisierungsprozess im Vergleich zur Bundesrepublik behaupteten. Das erfolgte zum Beispiel, in dem grundlegende Strukturmerkmale in der DDR kurzerhand übergangen worden sind. In diesem Alltag kam nämlich keine SED, keine Ideologie, kein systemsprengender Widerspruch mehr vor. Vielmehr wurde hervorgehoben, wie stabil und modern die DDR-Gesellschaft daherkam, wie gut fast alle es sich eingerichtet hatten, wie stark die Herrschaft durch die innere Akzeptanz legitimiert sei und dass selbst das Wahlverfahren in der DDR eine interessante Alternative darstelle.

Ist Katja Hoyers „Diesseits der Mauer“ eine „bahnbrechende“ Studie?

Warum ich das erzähle? Beim Lesen des Buches von Katja Hoyer muss jedem Fachkundigen fast automatisch diese fast vergessene sozialwissenschaftliche Entwicklung einfallen. Denn genau nach diesem Muster arbeitet die Autorin. Hoyer malt für die Anfangsjahre einen Staat, der zum Teil gegen die Gesellschaft agiert. Das jedoch schliff sich mit den Jahren spürbar ab. Nach dem Mauerbau von 1961 gewann der Staat die Mehrheit der Gesellschaft, so Hoyer, für seine Ideen, es stellte sich Zufriedenheit und Ruhe ein. Im Prinzip blieb es so bis fast kurz vor 1989. Obwohl Hoyer bis 1989 nicht von einer Diktatur spricht, verzeichnet sich das politische System nicht völlig. Aber doch erheblich. Sie reduziert es auf kleine Führungscrews um Walter Ulbricht und Erich Honecker. Tatsächlich schafft Hoyer es in ihrer „bahnbrechenden“ Studie mit dem Titel Diesseits der Mauer, so ihr deutscher Verlag jenseits jeder Seriosität, den DDR-Staat ohne SED, ohne Ideologie, ohne politischen Druck und ohne das bundesdeutsche Magnetfeld zu malen. Freiheit als Sehnsuchtsort kommt bei ihr nicht vor. Sie entwirft kein Paradies, sie verharmlost nicht einmal mit dem, was sie schreibt.

Aber interessant ist, was sie nicht erwähnt. Und das ist jede Menge. Die SED scheint ein Verein gewesen zu sein, der von einigen starrsinnigen Männern angeführt wurde, der sich aber offenbar im Alltag nicht widerspiegelte. An keiner Stelle geht es systematisch oder auch nur skizzenhaft um die flächendeckende SED-Herrschaft. Von Ideologie ist nichts zu lesen. Die Autorin hätte ja mal auf die Idee kommen können, zu fragen, was zum Beispiel politische Propaganda in den Schulen, den Medien, an der Universität, bei der Armee, wo auch immer – Millionen waren davon tagtäglich betroffen – mental, kulturell, intellektuell anrichteten. Nirgendwo ist bei ihr von Verboten zu lesen, von Verboten, mehr und anderes wissen zu wollen als das, was die Herrschenden vorgaben. So ist es auch logisch, dass sie an keiner Stelle nach den Folgen der Mauer fragt. Was macht die Mauer mit einer eingemauerten Gesellschaft eigentlich? Das interessiert sie nicht. Das würde wohl auch ihr Bild stören.

Ein Gesellschaftsbild, das im Einzelnen interessant ist, als Gesamtbild unhistorisch

Neben ihrer verkürzten Darstellung des DDR-Staates kommt die Gesellschaft, deren Alltag ausführlich zum Tragen. Hoyer erzählt immer wieder kleine Geschichten. In wissenschaftliche Abhandlungen stehen solche für das Allgemeine. Bei Hoyer lesen sie sich sehr gut. Weniger überzeugend sind die Inhalte. Denn bei ihr gab es weder Systemträger noch nennenswerte Systemgegner, sondern nur eine große Masse eher willig mitmachender Menschen, die sich eingerichtet hatten. Und die Proportion wäre nicht falsch, würden die anderen nicht fehlen. So entsteht ein Gesellschaftsbild, das im Einzelnen interessant ist, als Gesamtbild unhistorisch und verfehlt daherkommt.

Hoyer unterliegt wie viele theoretisch weniger bewanderte Menschen dem Trugschluss, man könne „Diktatur“ und „Alltag“ voneinander trennen. Es ist kein Zufall, dass in diesem Buch jede Auseinandersetzung damit, was die Kommunisten eigentlich wollten und auf welcher Theorie und Ideologie ihr Handeln basierte, fehlt. Wahrscheinlich liegt es nicht einmal an einer Agenda der Autorin, sondern nur an einer naiv-positivistischen Geschichtssicht, die glaubt, im Nacherzählen von Geschichten erschöpfe sich Wissenschaft. Das Buch wirft unweigerlich die Frage auf, was Historiker*innen eigentlich sollen. Jedenfalls nicht ausschließlich nacherzählen, sondern analysieren. Davon scheint Hoyer nichts zu halten.

Wolf Biermann bescheinigt sie, „seelisch etwas labil“ gewesen zu sein

Allerdings nimmt sie es auch mit den historischen Fakten nicht sonderlich genau. Die Darstellung des 17. Juni 1953 ist peinlich. Hier feiert die alte SED-These fröhlich Urständ, der Westen habe sich „eingemischt“, der RIAS habe die Ereignisse befeuert. Geradezu empörend ist, wie Hoyer die „SED-Gründung“, die Zwangsvereinigung von KPD und SPD behandelt. In jedem SED-Geschichtsbuch hätte sie damit Aufnahme finden können. Dass es in der DDR offenbar US-Markenjeans gab, die schön billig waren, während sie im Westen für die meisten „unbezahlbar“ waren, ist ein weiteres Beispiel für viele Faktenverdrehungen. Dass sie Wolf Biermann bescheinigt, „seelisch etwas labil“ gewesen zu sein, wird viele ihrer ostdeutschen Leser*innen ebenso erfreuen wie die Behauptung, ihn hätte niemand im Osten gekannt und gehört. Auch hier erklärt sie nicht, warum es nicht so einfach war, den verbotenen Sänger zu hören. Dass sie behauptet, Biermann habe niemand erreicht, auch keine „namhafte Person“, gelingt ihr nur, weil sie offenbar noch nie etwas von Robert Havemann gehört hat.

So könnte ich weitermachen: die Opposition wird mit wenigen Sätzen völlig verzerrt, die NVA als eine normale Armee hingestellt, die Stalin-Note war ernstgemeint, Kreuzfahrtreisen waren äußert beliebt, Doping spielte im Sport nicht die Rolle, wie behauptet wird, die (kommunistischen) Weltfestspiele 1973 waren das „rote Woodstock“, und dass sie den Inhalt von Nina Hagens Farbfilm nicht verstanden hat, nun gut, das haben auch viele andere nicht. Die Besprechung könnte aus lauter peinlichen Fehldarstellungen bestehen.

Anders als ihr Verlag behauptet, ist das Buch nicht „bahnbrechend“. Im Einzelnen bietet es nichts, wirklich gar nichts Neues! Wie denn auch? In Archiven hat sie nicht gearbeitet. Die von ihr herangezogene Literatur ist, freundlich ausgedrückt, sehr überschaubar. Sie kritisiert zum Schluss, die DDR-Menschen seien nach 1990 angeblich aufgefordert worden, die DDR zu vergessen. Nun, ihr Buch ist jedenfalls geeignet, die DDR als Diktatur zu vergessen. Über 30 Jahre Aufarbeitungsdebatte sind an diesem geschichtsvergessenen Buch spurlos vorübergegangen. Meine Prognose: Also beste Voraussetzungen um in Ostdeutschland zu einem Bestseller zu werden und künftig in ganz Deutschland als Beweis zu dienen: Es war doch gar nicht so übel in der kleinen, feinen DDR.

Diesseits der Mauer: Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990 Katja Hoyer Franka Reinhart, Henning Dedekind (Übers.), Hoffmann & Campe 2023, 592 S., 28 €

Ilko-Sascha Kowalczuk ist Historiker und war Mitglied der Regierungskommission „30 Jahre Revolution und Deutsche Einheit“, die 2020 den Impuls für das Zukunftszentrum gab. Im Juli erscheint von ihm Walter Ulbricht – Der deutsche Kommunist (C.H.Beck)

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