Krieg statt Frieden und Entspannung: Die SPD soll büßen – doch Canossa liegt im Irak
Aufrüstung Militärische Abschreckung braucht eine „Zeitenwende“ im Inneren: Dafür soll die SPD sogar ihr Nein zum Irak-Krieg bereuen. Über die Geschichtsvergessenheit des grünliberalen Bellizismus und die Schwäche wie den Mut unter Linken
Bundeskanzler Olaf Scholz besucht einen Geparden, und die ukrainischen Soldaten, die auf ihm trainieren, Schleswig-Holstein im August 2022.
Foto: Axel Heimken/Pool/AFP via Getty Images
Wir haben uns mittlerweile fast daran gewöhnt, dass Woche für Woche ein Sozialdemokrat nach dem anderen den Gang nach Canossa antreten und sich mit großer Mea-Culpa-Geste dafür entschuldigen muss, dass er einst an „Entspannungspolitik“ und an „Wandel durch Annäherung“ geglaubt hat. Dass ihm Worte wie Vertrauensbildung, Deeskalation, Abrüstung und Rüstungskontrolle, friedliche Koexistenz und gemeinsame Sicherheit von den Lippen kamen. Vor zwei Jahren wäre das vollkommen undenkbar gewesen.
Es gehört zur Tragik der Kanzlerschaft von Olaf Scholz (SPD), dass er die „Zeitenwende“ verkündete, aber diese Wende gerade seine eigene Partei auf links, nein: auf rechts dreht. Begriffe aus dem Arsenal der historischen R
erkündete, aber diese Wende gerade seine eigene Partei auf links, nein: auf rechts dreht. Begriffe aus dem Arsenal der historischen Rechten von vor 1945 – von Autarkie bis Wehrhaftigkeit – sind heute die Ideologie einer sich selbst „Fortschrittskoalition“ nennenden Regierung. Und die SPD lässt sich für das, was immer ihre Parteiseele war und ist, von den bürgerlichen Parteien vor sich hertreiben, lässt sich mit Vorwürfen des „historischen Versagens“ sturmreif schießen, und duldet es, dass man sie mit Parolen wie „Die Russland-Netzwerke in der SPD aufdecken!“ mal wieder in die Nähe des Vaterlandsverrats rückt, als wäre es schon wieder 1878 oder 1933.Eurokrise, Corona, Flüchtlingskrise, Krieg – nie wurde die Linke stärkerDas alles ist besonders bemerkenswert vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es eine wirkliche kühne Behauptung wäre, die drei Jahrzehnte westlicher Außenpolitik vor dem völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in der Ukraine wären von einer Willy Brandt'schen Entspannungspolitik gekennzeichnet gewesen und nicht von Dominanz- und Konfrontationspolitik, die eigene imperiale Interessen verfolgte. Die SPD hat, jedenfalls dort, wo sie vor der Kampagne ihrer Gegner eingeknickt ist, in den vergangenen zwei Jahren ihr gesamtes politisch-intellektuelles Kapital zerstört, das sie sich seit den späten 1960er Jahren aufgebaut hatte. Sie entfremdet dabei auch ihre eigene Basis, für die die Entspannungspolitik nun einmal zur politischen Identität und DNA gehört, zum Stolz der ewigen Underdogpartei, weil sie eben auch sozialdemokratische Kanzlerpolitik war in einem Land, das bis zum Amtsantritt von Olaf Scholz in 59 von 72 Jahren nur CDU-Kanzler gekannt hat und nach Scholz wohl auf Jahrzehnte keine weiteren.Dies kann nicht mit Häme schreiben, wem nicht nur die Zukunft von Frieden und Sicherheit in Europa und der Welt, sondern auch die Zukunft der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland am Herzen liegt. Im Gegenteil, es kann nur mit großem Bedauern und Entsetzen einhergehen, zumal die Krise der SPD Teil einer Krise der gesellschaftlichen Linken insgesamt ist, Teil einer gemeinsamen Krise von SPD und Linke, denn bislang profitiert von der historischen Unzufriedenheit mit der „Ampel“-Regierung nur die extreme Rechte und eine hart nach rechts verschobene Union. Die Canossa-Wanderungen der Sozialdemokratie sind tatsächlich Teil eines Gesamtproblems der linken, aus der Arbeiterbewegung stammenden Parteien in Deutschland. Was für die SPD gilt, gilt zweifellos auch für die Linke. Sozialdemokraten und linke Sozialisten müssen jedoch, wenn es eines Tages wieder aufwärtsgehen soll, schonungslos der Wahrheit ins Gesicht blicken und sind gut beraten, auf alles Weißwaschen, Schönreden und Zweckoptimismus zu verzichten.Zur Wahrheit gehört: Auch die systemoppositionelle Linke ist durch die Krisen der jüngeren Vergangenheit – Eurokrise (2010 ff.), „Flüchtlingskrise“ (2015 ff.), Coronakrise (2020–2022), Ukrainekrise (2022 ff.) – nicht stärker, sondern immer schwächer geworden. Das ist insofern bemerkenswert, als Sozialisten seit Karl Marx und Friedrich Engels‘ Zeiten ja eigentlich immer sehnlichst auf Krisen warteten und sie auch immer wieder herbeiredeten, weil der Kapitalismus eben ohne Krisen nicht zu denken ist, diese Krisen die Widersprüche des Systems zuspitzen und man als antikapitalistische Kraft in ihnen die Chance für an die Wurzeln der Probleme gehende Veränderungen sah.Tatsächlich aber ist der politische Niedergang der Linken auch dadurch begründet, dass auch sie es, analog zur SPD, geschafft hat, ihr über Jahrzehnte aufgebautes politisch-intellektuelles Kapital innerhalb von wenigen Tagen und Wochen zu vernichten. Das fing schon in der Coronakrise an. Auch da lagen die Dinge ja eigentlich recht einfach: Sie war der schlagende Beweis, dass die linke Kritik am Neoliberalismus und an der Neoliberalisierung des Gesundheitssystems, die man sich unter allergrößten politischen und intellektuellen Anstrengungen in zwei Jahrzehnten unter und gegen die Hegemonie der „neoliberalen Einheitspartei“ (von Gerhard Schröders SPD über Bündnis 90/Die Grünen und FDP bis CDU/CSU) erarbeitet hatte, als richtig erwies. Man hätte die Herrschenden also vor sich hertreiben können. Man hätte laut und deutlich sagen können: „Wir haben es doch immer schon gesagt, dass die Privatisierung von Krankenhäusern und ihre Umstellung aufs Profitprinzip, die damit einhergehende Schließung von Krankenhäusern in der Fläche und Streichung von Intensivstationsbetten, die Einführung der Fallpauschale und andere Maßnahmen, die das Gesundheitssystem ökonomisierten, dass die Personalkürzungen im öffentlichen Sektor, einschließlich der Gesundheitsämter, die nun zur Folge haben, dass Infektionsketten nicht mehr nachvollzogen werden können, weshalb lokalisierte Quarantänemaßnahmen unmöglich geworden sind und im Ergebnis in Zwickau und andernorts ‚Triage‘, d.h. die Entscheidung darüber, welcher Patient leben darf und welcher sterben muss, zum ‚Sachzwang‘ wird, falsch waren!“Den Kapitalismus gesund pflegen statt mit ihm zu brechenMan hätte, nicht zuletzt mit seiner starken organisatorischen Verankerung im Gesundheitssektor, die Parteien, die den Neoliberalismus zwischen 1998 und 2020 durchgesetzt, vertieft und aufrechterhalten haben, für dieses eklatante Staatsversagen verantwortlich machen und vor sich hertreiben können. Damit hätte man zugleich die „issue ownership“ erlangt, das heißt, das Thema und seine Richtung bestimmt, und diese Themensetzung nicht der AfD überlassen. Stattdessen konnte sie sich in bislang allen großen Krisen der vergangenen Jahre – Eurokrise, „Flüchtlingskrise“ und dann eben Corona- und heute Ukrainekrise – als einzige oder Hauptopposition zu den von ihr im NSDAP-Sound „Altparteien“ genannten Kräften inszenieren, obwohl sie keinerlei Alternative darstellt. So aber hätte die Linke die berechtigte Angst, Wut und Frustration, den Vertrauensverlust in der Bevölkerung in sozialistische Politik kanalisieren können, die Krise auch als Möglichkeit nutzen können, Aufklärung über die Notwendigkeit eines Bruchs mit dem Kapitalismus zu betreiben.Stattdessen aber glaubten man offenbar, man müsse sich in der von künstlichen System- und Sachzwängen gekennzeichneten Krise und bei der falschen Alternative „Lockerung oder Lockdown?“ auf eine Seite schlagen – und das, obwohl die Anhängerschaft keiner Partei in dieser Frage so gespalten war wie die der Linken. Das alles mit dem vorhersehbaren Ergebnis, dass nicht nur Wählerinnen und Wähler, sondern ganze Kreisverbände massenhaft von der Fahne gingen und, teilweise über den Umweg von „Die Basis“ und den Nichtwählern den Weg zur AfD fanden, wodurch die AfD vor allem im Osten der Linken ihren Status als Ostvolkspartei endgültig abnahm. Verwunderlich für eine Partei mit linkssozialistischem Anspruch und dem – wenigstens dem Programm nach – systemoppositionellsten Kurs war jedenfalls: Die Linke stellte sich, als das neoliberale Kind in den Brunnen gefallen war, buchstäblich in pflegerischer Absicht ans Krankenbett des Kapitalismus. Aber wie kann es sein, dass sich eine antikapitalistische Partei die Probleme des kapitalistischen Systems, das man doch eigentlich überwinden will, zu eigen macht? Wie erklärt es sich, dass gerade in Krisenzeiten viele Linke der Neigung nachgeben, jetzt die Suppe, die sich die Herrschenden eingebrockt haben, auch noch auszulöffeln – und das sogar noch als Oppositionspartei, wenigstens im Bund? Natürlich blieb auch die Linke weiterhin kritisch. Sie ist eine linke Oppositionspartei: Manchmal drang sie etwa durch mit einer Kritik an fehlender sozialer Abfederung bei den Corona-Schutzschirmen, Kritik an der Stärkung der Exekutivgewalt und am Übergehen des Parlaments usw., aber das war, weil vorhersehbar und als Nachrichtenware uninteressant, von wenigen Sendesekunden und Zeilen in unkontrollierbaren Medienapparaten gekrönt. Außerdem hätte eigentlich auch von vornherein klar sein müssen, dass man so letztlich als Anhängsel der Regierung und ihrer Maßnahmenpolitik erschien. Das Gleiche geschah dann zwei Jahre später, nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, noch einmal: Auch diesmal, nach dem 24. Februar 2022, hätte die Linke den Gegner vor sich hertreiben können. Sie hätte selbstbewusst sagen können, dass man als Oppositionspartei doch schon immer gesagt habe, dass es ein historisches Versagen westlicher Regierungen war, nach Ende des Kalten Krieges ein neues System kollektiver Sicherheit in Europa aufzubauen. Sie hätte sagen können, dass die Politik der Osterweiterung einer historisch mit der Auflösung des Warschauer Pakts funktionslos gewordenen NATO ein historischer Fehler war. Dass der Krieg auch Folge des historischen Versagens war, ein gutes Verhältnis zu Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken und Warschauer-Pakt-Staaten zugleich aufzubauen. Dass die westliche Politik heute vor den Scherben ihrer Politik stehe, die nie auf die russischen Vorstöße in Richtung eines „gemeinsamen Hauses Europa“ (Michail Gorbatschow), die russische Aufnahme in die NATO und die damals noch von allen Parteien im Bundestag begrüßte Putin'sche eurasische Wirtschaftsunion „von Lissabon bis Wladiwostok“ eingegangen sei. Dass das Heraushalten Russlands aus der östlichen Partnerschaft der EU und das russische und westliche Zerren an und Zerreißen der Ukraine 2013/2014 mitverantwortlich sei für die Entwicklungen, auf dem Rücken der armen, von Russland überfallenen ukrainischen Zivilbevölkerung.Placeholder image-1Die Linke hätte klarstellen können, dass man immer schon gesagt habe, dass Frieden und Sicherheit in Europa eben nicht ohne und schon gar nicht gegen die Atommacht Russland, sondern nur durch eine „kollektive Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands“ zu gewährleisten seien. Kurz, die Linke, die die herrschenden Parteien stets mit Verweis auf ihre Verantwortungslosigkeit in Sachen Außenpolitik ausgegrenzt haben, hätte auch hier wieder das Regierungsversagen der anderen Parteien bloßstellen können. Stattdessen aber übernahm man in der – vor allem im Nachhinein doch ziemlich naiven – Hoffnung, dadurch vom politischen Gegner und den mehr oder weniger gegnerischen bürgerlichen Medien als verantwortungsvoll anerkannt zu werden, die Narrative der Herrschenden und versuchte dann im eng gesteckten Rahmen dieser Narrative und der Meinungskorridore, eigene Gefechtsstellungen und Positionen aufrecht zu halten, die aber angesichts der geballten Macht der anderen Parteien und der staatlichen und privatkapitalistischen Medien kaum zu halten waren, zumal das Interesse der anderen Parteien und der ihnen sozial und weltanschaulich nahestehenden Medien ja auch nicht in der Stärkung des politischen Gegners, sondern gerade seiner Schwächung besteht.Wenn sich Prognosen und militärische Ziele als Illusionen erweisenZweifellos ziehen linke Parteien mit ihrer Geschichte und ihrer Verankerung in der Arbeiterbewegung zwar auch, aber nicht ausschließlich Karrieristen und Opportunisten an. Entsprechend bemühten sich in der SPD und auch in der Linken Politiker um die Verteidigung ihres politisch-intellektuellen Erbes und nahmen Haltung ein. Linke Politik unterscheidet sich ja vom Mainstream auch in der Tat inhaltlich, insbesondere wenn es um die Streitfragen von Waffenlieferungen an die ukrainische Regierung oder um die Forderung nach Verhandlungen geht. Das gilt vor allem für die Linkspartei, es gilt aber auch noch für Teile der SPD und für die kommunikativen Strategien von Scholz, Ralf Stegner oder Rolf Mützenich, die ja nun nicht nur aus der Opposition, sondern auch aus der eigenen Regierung, ja sogar aus der eigenen Partei – von Michael Roth und anderen – unter Beschuss genommen werden. Aber erstens kämpft es sich mit dem Rücken zur Wand und im ständigen Rechtfertigungsmodus bei ständig vorgehaltenem Stöckchen, über das man springen soll, schlecht. Wenn man jede Rede, in der man versucht, der machtunterfütterten herrschenden Meinung etwas entgegenzusetzen, indem man Verhandlungen fordert oder sich kritisch zu Waffenlieferungen stellt, mit dem Satz beginnt „Der durch nichts zu rechtfertigende, völkerrechtswidrige Angriffskriegs Russlands …“, dann ist es im Grunde egal, was man danach noch Kluges argumentiert, man macht sich zum einen unglaubwürdig (warum sagt er/sie A, aber nicht B?); und man kann dann argumentativ nur noch verlieren und kommt auch aus der Defensive nie heraus. Selbst dann nicht, wenn auch der Gegner, der mit einem Katz und Maus spielte, nicht mehr vorwärtskommt, weil seine Prognosen falsch waren, weil seine Ziele sich als Illusionen erweisen, die Argumente sich erschöpfen und – im Falle des Krieges – die von ihm zu fürchtende „Kriegsmüdigkeit“ einsetzt.Der Grund ist: Man kämpft eben auf dem Terrain, das der Gegner als für ihn vorteilhaftes Kampffeld ausgewählt, präpariert und vermint hat. Man kann sich dann so heldenhaft und unermüdlich wehren wie Roland aus dem gleichnamigen französischen Nationalepos. Am Ende sind der Gegner und seiner Pfeile einfach zu viele. Oder der Gegner passt seine Positionen an die neuen Gegebenheiten an und tut beispielsweise so, als habe er nie behauptet, der Ukrainekrieg ließe sich militärisch gewinnen, die Sommeroffensive habe Aussicht auf Erfolg und man könne und dürfe mit Russland nicht verhandeln. Zweitens aber, was noch viel schwerer wiegt, ist: Wenn man sich in diese Defensivposition begibt, dann überlässt man auch die eigenen Truppen den Attacken des Gegners, die sich dann – je nach intellektuellen Fähigkeiten, Haltung und Opportunismus, Mut und Mutlosigkeit – in alle Winde zerstreuen, sich in offenen Gegensatz zu Parteitagsbeschlüssen (wie bspw. in der Linken zu Waffenlieferungen) begeben, der politisch tödlichen Kakofonie Vorschub leisten und die Basis verunsichern. Eine verunsicherte Basis aber wiederum verhindert Führung, macht Führung ängstlich. Keine Zahlen drücken das so aus wie die innere Spaltung der Anhängerschaft der Linkspartei bei den Waffenlieferungen im Allgemeinen und der Taurus-Lieferungen im Besonderen. Dass nach ARD-Deutschlandtrend sogar mehr Menschen in der Gesamtbevölkerung die Taurus-Lieferungen ablehnen (59 Prozent) als in der Linken (57 Prozent), weil sie wohl ahnen, dass sie ein „Game-Changer“ sein könnten, aber nicht für die Ukraine, sondern in Richtung eines direkten (und dann womöglich atomar geführten) Kriegs mit Russland (denn auf ihrem Weg nach Moskau liegen 22 Atomsilos mit wenigstens 88 Atomsprengköpfen), zeigt den Grad der Konfusion. Eine gespaltene Anhängerschaft aber macht in einer durch Wahlen und Umfrageergebnisse entmutigten Partei ein selbstbewusstes Auftreten und Vertreten der eigenen Positionen noch schwieriger. Das Gefühl schleicht sich ein, dass man damit nur noch mehr Unterstützer verliert, weshalb man der Neigung nachgibt, die eigenen Positionen, von denen man befürchtet, mit ihnen allein zu stehen, gar nicht mehr laut zu vertreten (wo man überhaupt noch gehört wird), auch weil viele in der Partei glauben, dass man mit der Außenpolitik ja ohnehin nur angegriffen werden und Stimmen verlieren könne.Wegducken ist aber die schlechteste Strategie, wenn es um gesamtgesellschaftlich alles entscheidende Weichenstellungen geht, insbesondere wenn die inneren gesellschaftlichen Klassenverhältnisse, für die man glaubwürdige Politikkonzepte hat und durchaus hohes Vertrauen genießt (als Kraft der sozialen Gerechtigkeit), durch die Außenpolitik durch und durch überdeterminiert werden, die Politik nach innen und die nach außen also in solcher Weise verschränkt sind, wie heute. Beide Parteien, SPD und Linke, zahlen für ihr Einknicken vor der Macht der Anderen, vor der Aufgabe ihren eigenen Überzeugungen nun einen sehr hohen Preis. Den Preis des rasanten Niedergangs. Die Linke steht in Umfragen nur noch bei drei, die SPD bei ungefähr 15 Prozent. Das muss nicht so bleiben, aber die Frage ist, wie legt man den Schalter um?Wie Rolf Mützenich zum Staatsfeind erklärt wirdSicherlich: In Zeiten sinkenden Wählerzuspruchs, in denen man, so wie der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich, sogar schon für das Nachdenken darüber, wie man einen offensichtlich nicht zu gewinnenden Abnutzungs- und Stellungskrieg mit extrem hohem Blutzoll und genauso riesigem Eskalationspotenzial „einfrieren“ könnte, zum Staatsfeind erklärt wird, ist es nicht leicht, mutig zu sein. Auch kleiner Mut ist Mut und muss man honorieren. Er wäre aber unnötig, wenn man von Anfang an den Mut besessen hätte, sich selbstbewusst an sein Wissen zu erinnern, an das von der jeweils eigenen Partei über Jahrzehnte mühselig aufgebaute politisch-intellektuelle Kapital. Dabei ist der Gang nach Canossa weiter als viele Sozialdemokraten und Sozialisten glauben.Wie weit die Defensive von SPD und Linke noch gehen soll, sieht man anhand von Meinungsbeiträgen des Perlentaucher. Dieser ist ja ein besonderes Projekt. Über den „Porsche“-Konzern existiert das Bonmot eines BBC-Reporters, er sei ja eigentlich „ein Hedgefonds mit einer Autoproduktion als Anhängsel“. Über den Perlentaucher könnte man sagen: Es handelt sich bei ihm um eine imperialliberale bellizistische Propagandamaschine, die sich als Feuilleton-Rundschau tarnt. Schließlich selektiert die Redaktion in ihrer messianisch betriebenen Arbeit, die letztlich volkserzieherisch motivierter Politaktivismus ist, nicht nur, was als Feuilleton herumgezeigt wird (regierungskritische Freitag-Artikel oder welche von noch weiter links sind es nicht). Darüber hinaus färbt sie auch Artikel, die ihr politisch unangenehm sind, aber nicht ignoriert werden können, weil sie in FAZ, Zeit, Frankfurter Rundschau, SZ oder dergleichen erschienen, mit stark abwertenden Beschreibungen ein, während sie Artikel, die ihrer extremen Agenda entsprechen, mit den Mitteln von Agitation und Propaganda bewirbt. Seit einer ganzen Weile kommen hierzu auch die eigenen Meinungsbeiträge aus der Redaktion, die auch nur eine Richtung kennen. Sich mit ihnen zu beschäftigen, ist zweifellos nicht wichtig im Hinblick auf ihre Schlüssigkeit der Argumentation oder die Meinung. So propagandistisch, wie sie verfasst sind, liefern sie wenig Reibungsfläche. Die Auseinandersetzung lohnt vor dem Hintergrund ihres seismografischen Charakters hinsichtlich des liberalen Establishments. Ein neuer Kommentar von Richard Herziger darf nun als Fingerzeig dienen, wohin die Reise noch gehen soll, wo eigentlich dieses Canossa liegt, wohin das bürgerliche Establishment SPD und Linke treibt.„Mit der Rede vom ,Einfrieren'“, schreibt Herzinger, „fällt die Sozialdemokratie in alte Positionen zurück, die sie in Wahrheit nie aufgegeben hatte. Eine ernsthafte selbstkritische Aufarbeitung ihrer langjährigen verhängnisvollen Anbiederung an das Kreml-Regime hat nicht stattgefunden. Geschweige denn, dass dieses historische Versagen personelle Konsequenzen nach sich gezogen hätte. Olaf Scholz nimmt sich dabei das demagogische Manöver Gerhard Schröders zum Vorbild, der 2002 einer deutschen Teilnahme am Irakkrieg eine lautstarke Absage erteilte.“ Das lässt aufhorchen!Es war Angela Merkel, die, damals CDU-Parteivorsitzende und Oppositionsführerin, 2003 in die USA reiste, um sich bei George W. Bush für die deutsche Enthaltung im völkerrechtswidrigen Krieg der USA im Irak zu entschuldigen. In der Washington Post schrieb sie unter dem Titel „Schroeder Doesn't Speak for All Germans“ damals einen Leitartikel, der am Tag des Kriegsbeginns, am 20. März 2003, erschien. Schon damals war der Text kein Ruhmesblatt für die spätere Kanzlerin und die Kommunikation des Kanzleramts sah in den Folgejahren auch nicht vor, offensiv damit zu werben, dass Deutschland ja mit eigenen Truppen im Irak hätte vertreten sein können, welch versäumte Chance! Schon damals wusste die Weltöffentlichkeit, dass dieser Krieg mit monströsen Kriegslügen begonnen wurde. Ein Jahr später lernte man dann, dass die Bush-Regierung schon einen Tag nach 9/11 den damaligen Chef-Sicherheitsberater Richard Clarke nötigen wollte, eine Verbindung der terroristischen Anschläge zum Irak herzustellen, um diesen angreifen zu können. Zwei Jahre später war das Desaster offensichtlich. 36 Millionen Gegendemonstranten weltweit, davon drei Millionen allein in Rom, hatten das geahnt, konnten den Krieg aber offensichtlich nicht verhindern. Das hatte dramatische Folgen, die heute noch spürbar sind: Der „War on Terror“ forderte nach Angaben des „Costs of War“-Forschungsprojekts direkt mehr als 940.000 Todesopfer und indirekt 4,5 bis 4,7 Millionen und kostete neben diesen Menschenleben allein die USA bis heute acht Billionen US-Dollar. Mehr noch: Ohne die Destabilisierung der gesamten Region wäre al-Qaida, wären ISIS und der Syrienkrieg undenkbar, ohne diese die sogenannte „Flüchtlingskrise“ und der damit verbundene Aufstieg rechtsextremer Kräfte in Europa sowie die allgemeine Rechtsverschiebung der Flüchtlings- und Migrationspolitik usw.Beim „Perlentaucher“ hätte man sich eine deutsche Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf den Irak gewünschtDer Irakkrieg hat die Welt eindeutig zum Schlechteren gewendet. Geht es nach dem Liberalen Herzinger, soll dies aber nicht die Erinnerung sein. Er spricht von „Demagogie“, meint damit aber nicht die Lügen des damaligen US-Außenministers Colin Powell vor der UN-Generalversammlung über irakische Massenvernichtungswaffen und die Einschüchterung der US-Bevölkerung nach innen. Darüber verliert er kein Wort. Gemeint ist der bei allen Medien in Ungnade gefallene Schröder und seine politisch letztlich einzig richtige Entscheidung, die Nichtbeteiligung an dem Verbrechen, das der Irakkrieg war. Herzinger schreibt: „Scholz nimmt sich (...) das demagogische Manöver Gerhard Schröders zum Vorbild, der 2002 einer deutschen Teilnahme am Irakkrieg eine lautstarke Absage erteilte – bevor sie überhaupt von irgendjemandem verlangt worden war. Dass der damalige Kanzler dergestalt eine Kriegsbeteiligung Deutschlands abgewendet habe, gilt in der deutschen Öffentlichkeit noch immer als eine Heldentat für den Frieden.“ Dabei werde, so Herzinger weiter, „ausgeblendet, dass Schröder damals mit Wladimir Putin gemeinsame Sache gegen die USA machte – während Russland gleichzeitig einen Vernichtungskrieg in Tschetschenien führte“ (Merke: der krasse Geschichtsrevisionismus durch die Hintertür, der den deutschen Vernichtungskrieg, den „Generalplan Ost“ und den „Holocaust“ relativiert). Mit dieser Allianz habe „Schröders korrupte Liaison mit Putin“ begonnen, „die Deutschland in eine gefährliche Abhängigkeit vom russischen Energie-Imperialismus führen sollte“ (Merke: Imperialismus war ein Begriff aus der Mottenkiste, solange er gegen die westliche Außenpolitik gerichtet war, jetzt aber reüssiert er, ähnlich wie der Faschismusbegriff). Herzinger sagt also: Eine Beteiligung am völkerrechtswidrigen Irakkrieg wäre rückblickend und mit Blick auf Russlands völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine wünschenswert gewesen.Leider Gottes aber ist der Irakkrieg bis heute das schlechte Gewissen des liberalen Bürgertums, der Schandfleck der Transatlantizisten, der ihre Position gegenüber der Bevölkerung unsicher macht. Sich positiv darauf beziehen? Geht nicht. Oder ging bis heute nicht. Schon 2014 räsonierte ein Außenpolitik-Redakteur der Zeit offen darüber, ob die Spaltung zwischen Eliten- und Massenmeinung in Bezug auf den Euromaidan die Folge davon sei, dass man in den Jahren zuvor zu kritisch über US-Folter-, Abhör- und Kriegspraxen berichtet habe. So oder so: So einschneidend er auch weltgeschichtlich war, ignorierte der bürgerliche Liberalismus den Irakkrieg an Jahrestagen lieber, so wie es das liberale Establishment auch mit dem Afghanistankrieg gemacht hat. Den Afghanistankrieg erwähnt das „Weißbuch“ der Bundesregierung, das 2016 die Aufrüstung und noch stärkere Out-of-Area-Einsatzorientierung begründen sollte, nur zweimal – obwohl es doch der größte Out-of-Area-Einsatz überhaupt war und man annehmen sollte, dass der Werbung für noch mehr davon die Evaluation der bisherigen Erfahrungen vorausgehen müsste. Aber man wusste eben, dass eine solche keine Werbung für noch mehr Kriegseinsätze der Bundeswehr war und ist, im Gegenteil. Also schreibt man im Westen bis heute zu Jahrestagen nicht mehr über Afghanistan. Nicht mehr über Libyen. Nicht mehr über den Irak.Kulturelle Kriegstüchtigkeit statt PazifismusAber vielleicht glaubt man heute, man müsste es, könnte es wieder? Diejenigen Kräfte sind ja nicht verschwunden, die in der deutschen Enthaltung im Irakkrieg oder auch im Libyenkrieg, also dem Krieg, dem wir die grausamen Sklavenmärkte mit Menschen aus Subsahara-Afrika verdanken, einen „deutschen Sonderweg“ und „diplomatischen Scherbenhaufen“ erkennen wollten und anschließend die Studie „Neue Macht – neue Verantwortung“ (2013) vorantrieben, mit der man neue Großmachtambitionen untermauerte.Es scheint, der Ukrainekrieg soll jetzt die Möglichkeit liefern, die Defensivposition von SPD und Linken auf Dauer zu stellen, die ideologische „Zeitenwende“ nicht nur rüstungspolitisch, sondern auch als kulturelle und ideologische „Kriegstüchtigkeit“ ganz und gar durchzusetzen und in Deutschland nicht nur die Bundeswehr in die Schulen lassen und Zivilklauseln an Universitäten schleifen, sondern jede Erinnerung an Entspannungspolitik, Abrüstung, Friedenserziehung, pazifistische oder antimilitaristische Grundhaltung, die für die große Mehrheit der Bevölkerung die Lehre aus Faschismus und Weltkrieg war, auszumerzen. Dass sich die Heilige Inquisition des militaristischen Liberalismus jetzt an die Erinnerung an Irakkrieg und deutsche Enthaltung traut, darf als Beleg dafür gedeutet werden, wie sicher sie sich fühlt – wohl auch, weil Schröder aus den falschen Gründen gesellschaftlich zum Abschuss frei- und der Lächerlichkeit preisgegeben worden ist und sogar noch der medialen Demontage des Angela-Merkel-Erbes einen draufsetzt. Die eigene kriegerische Vergangenheit vergessen, damit die Logik des Militärischen alles dominieren kannAber klar ist auch: Wer einen Neuen Kalten Krieg will, wer für Deutschland die „dienende Führungsrolle“ (Robert Habeck) im engsten Schulterschluss mit den USA auf ihrem Weg in die neue Blockkonfrontation gegen China vorsieht, der muss das Geschichtsbild radikal ändern, der braucht eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ der besonderen Art. Jede Erinnerung an den Kosovokrieg, den Afghanistankrieg, den Irakkrieg, den Libyenkrieg, an extralegale Tötungen und Guantánamo, an Falludscha und Abu Ghraib, an das Massaker von Haditha und US-Foltergefängnisse in der EU, an NSA-Skandal und Victoria Nuland, an Oberst Klein und an US-Wirtschaftskriege, die sich nicht nur gegen China, sondern auch gegen Europa und alle anderen Rivalen richten, muss ausgelöscht werden. Nur so können auch die allerletzten Widerstände gegen Aufrüstung und „Abschreckungs“-Doktrin, gegen einen harten Transatlantizismus und gegen Bestrebungen einer größeren Unabhängigkeit Europas (auch) im Verhältnis zu den USA beseitigt werden.Nur so greifen die immer verzweifelteren Durchhalteparolen im Ukrainekrieg: „Nur“ noch zwei Jahre bei größtem Blutzoll durchhalten und die numerische Überlegenheit der russischen Armee „abschmelzen“, dann kommt endlich eine neue ukrainische Offensive! Nur so kann die von der Bevölkerungsmehrheit abgelehnte Lieferung immer neuer Waffensysteme, die den Westen immer tiefer in einen direkten Krieg gegen die Atommacht Russland hineinzieht, durchgesetzt und die Kritik hieran mundtot gemacht werden. Nur so kann die vor den Augen der Weltöffentlichkeit gerade versagende absolute Dominanz der Logik des Militärischen aufrechterhalten werden. Herzinger und der grünliberale Bellizismus behaupten, es gehe ihnen um die Ukraine. Tatsächlich aber geht es ihnen um die Seele Deutschlands und Europas, um nichts weniger.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.