Jamal Tuschick - Die Wüsten von Europa

#TexasText/Jamal Tuschick Ohne die Ausbeutungen der Dritten Welt seit den westindischen Abenteuern des Kolumbus wäre Europa zu schwach, um auch nur eine Grenze zu halten. Die alten Kolonialreiche erheben als Demokratien weiterhin Anspruch auf Überlegenheit.

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Die Wüsten von Europa

„Ich schreibe auch Dinge, die ich nicht verstehe. Ich lasse sie in meinen Büchern stehen und lese sie wieder, und dann bekommen sie einen Sinn.“ Marguerite Duras

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„Unser Zentralnervensystem ist eine gigantische energetische Bibliothek, in der alles hinterlegt ist, was sich je in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit ereignet hat.“ Thomas Hübl

In jedem Gasthaus sitzt einer, der was weiß und der wen kennt. Zum Beispiel kennt er einen freien Mitarbeiter vom Fulda Kurier, dem sollte mal jemand stecken, wie eigenmächtig und selbstherrlich die Gerster-Gang in Kraichhainer Rathaus vorgeht. Oder was Adem Koyuncu mit Luciano Montana zu tun hat. Deutsches Unverständnis für kalabrische Eigentümlichkeiten animierte Luciano einst zu der Bemerkung: Wir vom Carbonara-Clan wissen inzwischen auch, was Umweltschmutz wert ist.

Und wieder einmal sind die Koyuncus zu Gast in der Isola Bella; wenn auch in einer relativ neuen Besetzung. Luciano begibt sich zu Adem und dessen Zweitfamilie. Er nimmt Silvis Töchter in Augenschein. Man könnte mit ihnen einen Animationsfilm für die Willkommenskultur drehen. Die Flüchtlinge und der Terror bestimmen die Tagesordnung. Angela Merkels „Wir schaffen das“ und Barack Obamas „Yes we can“ liefern dem Augenblick die Slogans. Das Jahr hat in Paris hart angefangen. Am 7. Januar 2015 erschossen Islamisten zwölf Menschen in der Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“. Es gab Brandanschläge auf Notunterkünfte und weitere Ausschreitungen. Vor ein paar Tagen zogen Polizisten auf einer österreichischen Transitstrecke einundsiebzig Passagiere tot aus einem Lastwagen.

Ohne die Ausbeutungen der Dritten Welt seit den westindischen Abenteuern des Kolumbus wäre Europa zu schwach, um auch nur eine Grenze zu halten. Die alten Kolonialreiche erheben als Demokratien weiterhin Anspruch auf Überlegenheit. Sie wollen die Armut an einem anderen Ende der Welt festhalten. Jahrhundertelang konnten sie vom Überschuss junger Männer über die Lohnkosten und den Müll bis zu ihren Schwerverbrechern Belastungen exportieren und sonst wo vergesellschaften. Nun formuliert sich der europäische Standpunkt auf einem Berg von Leichen, der zur Abschreckung täglich im Fernsehen gezeigt wird.

Adem sieht Massengräber der Hoffnung, ausgehoben von Schergen an der Peripherie. Die Migranten geraten aus Metropolen in ewignächtliche Randgebiete. Sie entdecken die Wüsten von Europa. Der Dschungel von Calais bricht durch den Asphalt der Pariser Boulevards. Die Bestie Europa reißt und frisst, bis sie gefressen wird. Luciano kennt einen Dreh, aus den Flüchtlingen Geld herauszuholen. Er weiß, wie man die Ärmsten schröpft. Darüber will er mit Adem gelegentlich reden. Der alte Verbrecher betrachtet sich als Freund der Koyuncu-Familie, egal wie sie sich gerade zusammensetzt. Luciano und Adem haben ein gemeinsames Baby, von dem nicht viele wissen; eine Bettenburg in der Pampa von Kraichhain.

An einem anderen Tag

Die Isola Bella steht für das moderne Verbrechen, während im Eisensteiner Stier die eingesessenen Gangster an ihrem Stammtisch vergreisen. Ihre Grundstücke nennen die dynastischen Kraichhainer Länder, wie zu den Zeiten, als man noch Güter herrschaftlich bewirtschaftete. In den 1960er Jahren kaufte Adems Großvater von ihnen spekulativ Äcker, die dann doch nicht Bauland wurden.

Man spielte dem alten Zauberer übel mit. Kein Geburtsrecht sicherte ihm einen Platz in der Fraternität Marienwerk, die sich auf eine vom Papst bedachte Gemeinschaft beruft und einen informellen Senat bildet, an dem kein Bürgermeister vorbei regieren kann. Die organisierte Nächstenliebe reicht von der Geldwäsche bis zum Exorzismus.

Teufelsaustreibungen sind eine Spezialität der Bruderschaft, in der Schwestern mittun. Austreibungen finden weltweit statt. Eine im Vatikan archivierte Schirmherrschaft des von Karl dem Großen gegründeten Königsklosters Neustadt am Main schützt die religiöse Bande. Das ist eine mafiöse Struktur. Dagegen erscheint Luciano Montana als Waisenknabe, jedenfalls so lange niemand ins tödliche Detail geht. Der kalabrische Pate gönnt sich ein Eis auf dem Rathausvorplatz. Nicht zum ersten Mal sucht er sein Verhältnis zur Kunst vor Ort. Aus einem mit Kopfsteinpflaster verniedlichten Oval ragt eine Stele. Der Künstler ist in der weiten Welt vollkommen unbekannt. Interessanterweise fordert sein Beitrag zur Moderne im öffentlichen Raum keinen Bürgerunmut oder jugendlichen Vandalismus heraus. Bisher gab es keine Verschönerungen, die entfernt werden mussten. Ein Protegé der Kraichhainer Kulturbeauftragten Therese Gerster hat das Werk verbrochen. Die Nichte der Bürgermeisterin steht im Mittelpunkt eines Auflaufs vor dem Café Arkana. Eine der schrägsten Gestalten des Landkreises erweitert gerade den Kreis. Der Modelleisenbahner und Hobbyfotograf Olm gestaltet gemeinsam mit Therese den Heimatkalender Landliebe. Er zeigt Leute wie du und ich zwischen Tür und Angel einer restaurierten Backstube, auf dem Traktor oder elegisch mit Forke vor einem Misthaufen. Therese selbst hat sich auf einer Eisenbahnbrücke mit traumhaften Bögen im Zustand vorgetäuschter Entrückung fotografieren lassen. Olm ist seit seinem vierzehnten Lebensjahr in der freiwilligen Feuerwehr aktiv. Als Thereses Hoffotograf hat sich der Spanner neu erfunden. Er verkörpert jetzt eine um sich greifende Persönlichkeit, nach Jahren, in denen sein Leben geschlossen hatte wie ein Edeka am Sonntag (in den 1970er Jahren). In den Heftchenromanen vom Bahnhofskiosk kamen seine Vorlieben nicht vor.

Rausch als Antwort auf die Erfahrung Einsamkeit. Olm stand noch nicht einmal das Volkshochschulvokabular für seine Wünsche zur Verfügung. Saß er mit der Mutter vor dem Fernseher, dachte es mörderisch in ihm: Die Alte hat Schuld. Sie hat das Monster zur Welt gebracht. Alles war alt. Die Decken, das Sofa, der Fernseher. Das Haus, die Fensterläden, der Aufgang. Alles sah so aus, als wäre es schon immer alt gewesen. Auch die Mutter sah so aus. Ihre Liebe gab sich nicht zu erkennen. Dabei hätte einen die Mutter doch wenigstens lieben müssen, wenn sie sonst schon nichts für einen tun konnte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick