Jamal Tuschick - Kindheit im Kühlschrank

#TexasText/Jamal Tuschick „Es gibt keinen Mutterinstinkt“, sagt Gülcin Wilhelm. Auch Mutterliebe ist Trainingssache. Da gerieten in vielen Konstellationen Fremde aneinander und sollten sich doch als Familie verstehen. Wie darüber reden?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Sehen Sie ferner https://www.freitag.de/autoren/jamal-tuschick/texastext-jamal-tuschick-jamal-tuschick-lieblingskind

*

https://www.freitag.de/autoren/jamal-tuschick/texastext-jamal-tuschick-jamal-tuschick-1

*

https://www.freitag.de/autoren/jamal-tuschick/texastext-jamal-tuschick-natuerliche-hohlraeume

*

https://www.freitag.de/autoren/jamal-tuschick/texastext-jamal-tuschick-esoterisches-hochamt

*

English Version

*

https://www.story.one/de/story/esoterisches-hochamt/

https://www.story.one/de/story/kindheit-im-kuhlschrank/

https://www.story.one/de/story/lieblingskind-6623a68ceaa40/

https://www.story.one/de/story/kalabrischer-klan/

https://www.story.one/de/story/smalltalk-der-korper/

Kindheit im Kühlschrank

Von den Eltern verlassen, bei Verwandten aufgewachsen das Schicksal von „Gastarbeiter“-Kindern türkischer Herkunft ist im kollektiven Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft bis heute nicht vorhanden.

In der Ära der Anwerbung ging es nur um die Arbeitskraft. Das erste Abkommen mit der Türkei kam 1961 ohne Berücksichtigung der Kinderfrage zustande. In der deutschen Administration ersetzte man „Fremd“ mit „Gast“, um die Arbeiter dann wieder fast genauso unterzubringen wie gehabt: Das heißt konzentriert in Baracken. Die Perspektiven koinzidierten: alle gingen von kurzer Dauer der Arrangements aus. Kinder wurden bei den Großeltern geparkt. Das ist ein ausgespartes Thema. Mitunter hielten die Zurückgelassenen die Großeltern für ihre Eltern. Wenn sie dann nach Deutschland verbracht wurden - in der Konsequenz mutierter Lebensplanungen - kollabierte ihre stärkste Bindung unbesprochen. Nun konnten die gesetzlichen Eltern schlecht erklären, warum sie den nachkommenden Nachwuchs erst einmal ausgeschlossen hatten.

„Das zurückgelassene Kind entwickelt Schuldgefühle“, erklärt Gülcin Wilhelm, siehe „Generation Koffer. Die Pendelkinder der Türkei“. Das Kind vermutet Gründe für die Isolation in der eigenen Unzulänglichkeit. „Aus dem Muster der Selbstverurteilung rührt der Drang, sich extra zu beweisen“, in der vergeblichen Hoffnung auf immediate-return. Gülcin Wilhelm findet dafür das Bild: „Du wirfst einen Stein nach dem anderen in einen bodenlosen Brunnen“.

Trainingssache Mutterliebe

„Es gibt keinen Mutterinstinkt“, sagt Gülcin Wilhelm. Auch Mutterliebe ist Trainingssache. Da gerieten in vielen Konstellationen Fremde aneinander und sollten sich doch als Familie verstehen. Wie darüber reden?

*

Könnte Adem den Geisteswissenschaften eine angemessene Bedeutung zubilligen, fiele es ihm leichter etwas verstehen, was in seiner Familiengeschichte nie aufgeklärt wurde. Die Aufklärung führt in einen Abgrund. Der Abgrund tut sich dann auf, wenn einer erkennt, dass er für die gefühlskalte Mutter keine unerwiderten Gefühle aufgebracht hat. Eine Kindheit im Kühlschrank.

Wohnzimmersonntag - Eine Rückblende

Ein öder Wohnzimmersonntag in den 1970er Jahren. Die Schokoladentorte versöhnt Adem mit der Langeweile. In der Plattentruhe steigen und fallen die Schallplatten in einem magischen Geschehen. Rudi Schuricke ist Oma Erikas Mann am Mikrofon. Rudi Schuricke war ein Star von „Hitlers Hitparade“ - so der Titel eines Films von Oliver Axer und Susanne Benze. Erika Hölzenbein ist natürlich nicht Adems Oma, sondern die Schneiderin seiner Mutter. Erikas Wohnzimmer bleibt unter der Woche geschlossen. Die meisten Möbel und so auch das Sofa sind so lange abgedeckt. Am meisten interessiert Adem eine Schallplattenvitrine mit Intarsien. Die Vitrine firmiert als Truhe und glänzte neben einem Vertiko. Die Maschine ist der teuerste Gegenstand, den Oma Erika besitzt.

Ihr Alltag spielt sich in der Küche ab. Da bäckt sie für den Besuch Pfannkuchen oder füllt mit dem Teig die Negativform eines schweren, jugendstilistisch verzierten Waffeleisens. Als Frau eines Verschollenen mit zwei Kleinkindern und einem Baby war Oma Erika nach dem Krieg kaltgestellt worden. Während ihr fast alles peinlich ist, tritt ihre Schwester Erna mit dem weltweit kopierten Schwung von Marika Rökk auf. Das ist Oma Erika erst recht peinlich. Erna lacht herzlich über ihre genante (von genieren) Schwester. Sie fegt Oma Erikas Bedenken vom Tisch, aufgehellt vom mitgebrachten, im Einkaufsbeutel flaschenweise herumgetragenen Likör, dem Erna ausdauernd zuspricht. Oma Erika nippt hasenherzig mit hochgezogener Oberlippe. Erna kippt. Sie schließt den Vorgang ab, indem sie sich mit dem Handrücken tatkräftig über den Mund fährt. Erna ist den leichten Weg gegangen. Sie hat einen Ami geheiratet. Onkel Bob aus dem Sonnenstaat Florida. Er fährt zwar einen Straßenkreuzer, der doppelt so breit ist wie ein Opel Admiral, vermeidet sonst aber alles Auftrumpfende.

Jahrzehnte später besuchen Adem und seine Ehefrau Marion Erika und Bob in Cedar Key am Golf von Mexiko. Eine Inselgruppe vor der Küste heißt Cedar Keys. Bob zeigte den Gästen die Gegend und so kommen sie dahin, wo Rosewood einst existierte. Rosewood ist heute eine Wüstung. Der nach einem Massaker an der überwiegend Schwarzen Bevölkerung 1923 aufgegebene, rund fünfzehn Kilometer östlich von Cedar Key gelegene Ort, ging 1847 aus einem Holzfällercamp hervor. Cedar bedeutet Zeder. Auch Rosewood bezieht sich auf (die Farbe der) Zeder. Zedern stifteten dem Weiler eine kleine Industrie. Zu einem Sägewerk kamen Holz- und Kiefernölmühlen (Terpentinmühlen). Nach dem Sezessionskrieg erhielt Rosewood einen Gleisanschluss. Es formierte sich eine Schwarze Gemeinschaft.

Die weiße Lüge

1923 behauptete eine verheiratete Weiße namens Fannie Taylor nach einem handfesten Streit mit ihrem weißen Liebhaber, von einem Schwarzen angegriffen und verletzt worden zu sein. Fannie Taylor brauchte eine Erklärung für ihre Blessuren, die sie nicht als Ehebrecherin desavouierten. Die weiße Lüge löste einen Pogrom aus. Die Schwarzen kämpften. Die Zahl der Toten auf beiden Seiten ging in politischen Feststellungen unter.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden