Polen: Im Osten ist eine neue Regionalmacht im Anflug – und Europas bald größte Armee
Sejm-Wahl Die Partei PiS tut einiges dafür, nach der Sejm-Wahl in Polen weiterregieren zu können. Sie geht zur Ukraine auf Distanz, entkoppelt sich von der EU und hat die USA als Kreditgeber sowie Waffenlieferant im Rücken
Warschau, 2023: Gleichzeitig zu Mariä Himmelfahrt feiert Polen am 15. August den „Tag der Streitkräfte“, der die gewonnene Schlacht bei Warschau im Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1920 feiert.
Foto: Beata Zawrzel/Picture Alliance/JurPhoto
Am 25. September brachten polnische Medien eher am Rande die Nachricht, die USA hätten beschlossen, der PiS-Regierung einen Kredit in Höhe von zwei Milliarden Dollar zu gewähren. Das Geld stammt aus dem US-Programm Foreign Military Financing (FMF) und soll Rüstungskäufe finanzieren helfen, die Warschau zuletzt angekündigt hat. Und die haben es in sich: Die seit acht Jahren regierende Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) will nicht nur die stärkste Armee innerhalb der EU auf den Weg bringen. Vielmehr hat Polens Führung im laufenden Jahr den Verteidigungsetat von 2,2 Prozent (2022) auf 3,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – das sind umgerechnet gut 32 Milliarden Euro – nahezu verdoppelt. Damit wird das Zwei-Prozent-Ziel
3,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – das sind umgerechnet gut 32 Milliarden Euro – nahezu verdoppelt. Damit wird das Zwei-Prozent-Ziel der NATO deutlich übertroffen. Die Allianz verfügt über einen Primus, dem selbst die Vereinigten Staaten mit einem Budget von 3,3 Prozent des BIP nicht das Wasser reichen können. Im kommenden Jahr soll der Aufwand weiter an Höhe gewinnen, um neue Waffen – vor allem US-amerikanische – anzuschaffen. Kreditkarte ohne LimitDer Kredit-Deal ist vor diesem Hintergrund vielsagend, zeigt er doch, dass kaum ein NATO-Staat so vehement und vorauseilend der in Washington favorisierten Aufrüstungsdoktrin gehorcht wie Polen. Es gibt auch niemanden, der sich stärker an die USA bindet, die der polnischen Armee mehr als 360 Abrams-Panzer liefern wollen, dazu etwa 100 Apache-Helikopter und 500 HIMARS-Raketensysteme. Damit werden Abhängigkeiten regelrecht zementiert, während Warschau sich zugleich von der EU zu entkoppeln sucht. Europäische Unternehmen sollen bei diesem Aufrüstungsfuror möglichst wenig zum Zug kommen. Dafür sind langfristig 1.000 südkoreanische K2-Panzer avisiert, deren Verkauf in Seoul durch einen staatlichen Kredit abgesichert wird. Polnische Experten warnen, vorerst noch leise, Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak verfüge über eine Kreditkarte ohne Limit, ohne Kontrolle durch das Parlament. „Er reist um die Welt und verschuldet die Polen – das ist ein großes Risiko für die Stabilität der Staatsfinanzen“, findet der Ökonom Slawomir Dudek vom unabhängigen Think-Tank Institut für öffentliche Finanzen (IFP).Darüber wird man sich in Washington wohl kaum den Kopf zerbrechen, obwohl es – könnte man meinen – momentan kaum einen weniger geeigneten Zeitpunkt dafür gibt, neue US-Kredite für einen polnischen Waffenerwerb anzukündigen. Erst vor wenigen Tagen hat Premierminister Mateusz Morawiecki erklärt: „Wir transferieren keine Waffen mehr an die Ukraine, weil wir uns selbst mit den modernsten Waffen ausrüsten.“ In Washington wurde das nicht weiter moniert, wohl weniger wegen Polens in Aussicht stehender milliardenschwerer Waffenkäufe. Morawiecki hatte sich immerhin beeilt, mit Nachdruck zu betonen, dass der Waffennachschub für Kiew über den zentralen Hub am Flughafen Rzeszów in Südpolen wie gehabt weitergehe. Die US-Administration dürfte sich außerdem darüber im Klaren sein, dass die PiS-Partei im Inland punkten muss, wenn sie die am 15. Oktober anstehende Parlamentswahl gewinnen will.Um das zu erreichen, gab es für die Hardliner um PiS-Chef Jarosław Kaczyński keine andere Wahl, als auf Vorwürfe von Ukraine-Präsident Wolodymyr Selenskyj harsch zu reagieren. Der hatte – nachdem Warschau den Einfuhrstopp (nicht den Transit) für ukrainisches Getreide verlängerte – in seiner Rede vor den Vereinten Nationen diese Entscheidung heftig attackiert. Da der Beistand für die Ukraine bisher nahezu makellos war, beklagte sich Polen: Selenskyj hat uns beleidigt. Die PiS artikulierte sich entsprechend scharf und warf dabei ein Auge auf der Ukraine gegenüber kritische Wähler, die bis jetzt mehr zur nationalistisch-libertären Partei Konfederacja neigten. Umfragen offenbaren, dass dieses Kalkül teilweise aufgeht. Was hätten die USA von Donald Tusk?Natürlich wird die PiS-Partei ihre rhetorischen Geschütze nicht länger als nötig gegen Kiew abfeuern, sollte sie die alleinige Macht behalten. Auch wenn derzeit eine PiS-Alleinregierung kaum in Reichweite ist, darf man getrost davon ausgehen, dass aus Sicht der US-Administration die PiS auf dem geopolitischen Schachbrett eine vielversprechendere Figur abgibt als ein mögliches Mitte-links-Kabinett. Was sollte an einer solchen Konstellation verlockend sein? Dass sich eine Koalition unter Ex-Premierminister Donald Tusk der EU wieder als kohärenter, berechenbarer politischer Partner empfiehlt? Was hätten die USA davon?Im Jahr 2016 stornierte die PiS-Regierung einen Großauftrag ihrer Vorgänger über den Kauf von 50 französischen Caracal-Kampfhubschraubern. Heute dürfte der 66-jährige Tusk bei einem Wahlsieg die erneute Annäherung an Brüssel, Berlin und Paris suchen. Der ehemalige EU-Ratspräsident (im Amt 2014 – 2019) würde womöglich nicht gleich die Föderationspläne Berlins für die EU unterzeichnen, wohl aber etwas gegen entstandene Gräben zu Deutschland und Frankreich tun. Und er würde es sicher vermeiden, die EU-Kompetenz in Frage zu stellen, wie es die PiS-Partei mit dem erwähnten, eigenmächtig verlängerten Embargo für ukrainisches Getreide handhabt.Placeholder infobox-1Keine Frage: „Recht und Gerechtigkeit“ hat in den vergangenen acht Jahren, insbesondere aber seit Beginn des Ukraine-Krieges, so viel Macht auskosten können, dass die Partei davon möglichst nichts missen will. Der radikal geführte Machtkampf – etwa das skandalös undemokratische Drangsalierungsgesetz „Lex Tusk“, die hetzerische Propaganda gegen Flüchtlinge, die über Belarus kommen, oder das Schüren von Ängsten vor einem russischen Angriff auf Polen – deutet darauf hin: Sollte der Wahlausgang knapp und unübersichtlich werden, wird die PiS nach Mitteln suchen, das Zepter nicht aus der Hand zu geben.Die PiS ist sozialpolitisch erfolgreichDies liegt auch am veränderten Zustand des Landes, wie ihn die Partei herbeigeführt hat. Im „Schlechten“, wenn es zur Einverleibung von staatlichen und halbstaatlichen Institutionen unter PiS-Kuratel kam, im „Guten“, wenn die Partei mit durchaus sinnvollen Maßnahmen in der Steuer-, Sozial-, Arbeitsmarkt- und Investitionspolitik den Wohlstand von Millionen Polen gefördert und dabei die Wirtschaft keineswegs abgewürgt hat. Die Arbeitslosenquote liegt gegenwärtig trotz des Ukraine-Krieges und der Inflation mit 2,8 Prozent „historisch“ tief und ist EU-weit, nach Malta und der Tschechischen Republik die drittniedrigste. Betriebe suchen Beschäftigte, sodass mit einer eher stillen Förderung durch die PiS immer mehr Arbeitsmigranten aus dem Fernen Osten ins Land kommen. Die aktuelle Visa-Affäre, bei der sich einige PiS-Politiker und deren Lakaien offenkundig schamlos bereichert haben, ist ein Nebenprodukt dieser Tendenz.Polen hat sich als einer der bedeutendsten östlichen Mitgliedsstaaten der EU etabliert. Brüssel muss das Land stärker berücksichtigen, als das bei Antritt der PiS-Regierung 2015 der Fall war. Der Streit um rechtsstaatliche Prinzipien, deren Verletzung Brüssel größtenteils zu Recht kritisiert, zeigt dies ebenfalls. Die Gefahr, dass bei einer Fortdauer der jetzigen Regierungsmacht diese gemäß ihrer nationalistischen DNA rhetorisch und politisch weiter nach rechts und ins Autoritäre tendiert, ergibt sich nicht nur aus den geschilderten Umständen. Maßgebend ist, dass eine PiS-dominierte Exekutive freiwillig und frei von jeglicher (Selbst-) Kritik eine Art US-Bundesstaat an der Weichsel etabliert. Der Ukraine-Krieg begünstigt das, denn jeder neue US-Kredit, jeder Waffenkauf und jedes Abkommen zu Energielieferungen aus den USA verstärken eine asymmetrische Beziehung nur zusätzlich.Kein Kompromissfrieden mit RusslandWarschau steht in der Reihe der Ukraine-Verbündeten mit an letzter Stelle, wenn es um das Ausloten eines möglichen Waffenstillstands oder eines Kompromissfriedens mit Russland geht. Was historisch nachvollziehbar sein mag, ist politisch zweifelhaft. „Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor“, diesen Spruch aus der Römerzeit betonen PiS-Politiker immer wieder gern. „Wenn du Frieden willst, dann bereite dich auf Frieden vor“, sagte einst Józef Rotblat. Der polnisch-britische Physiker hatte während des Zweiten Weltkriegs am Manhattan-Atombombenprojekt der USA mitgearbeitet, sich aber vorzeitig zurückgezogen. 1995 erhielt er mit der von ihm initiierten Organisation Pugwash den Friedensnobelpreis für seinen Kampf gegen Atomwaffen. Rotblat, der Friedenssucher, ist heute in Polen weitgehend unbekannt. Anders als Zbigniew Brzeziński, der in Polen geborene und 2017 verstorbene US-Sicherheitsberater und Stratege, der trotz umstrittener Beratungsleistungen in hohen Ehren gehalten wird. Sein Sohn Mark Brzezinski ist heute US-Botschafter in Warschau. Er sei „stolz“ auf den neuen US-Kredit für Polens Waffenkäufe, schrieb er. Dieses Land erhalte den Kredit, weil es „ein treuer Verbündeter der USA“ sei. Ein gefährlich treuer Vasall.Eingebetteter MedieninhaltPlaceholder authorbio-1
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