Polen vor der Wahl: Deichseln an der Weichsel

Parlamentswahl 30 Millionen Wahlberechtigte könnten der PiS-Regierung am Sonntag ein Ende bereiten. Wieso kündigen schon jetzt die wichtigen Armee-Generäle?
Ausgabe 41/2023
Polen hat was auf dem Herzen: den Spitzenkandidaten der Opposition, Donald Tusk
Polen hat was auf dem Herzen: den Spitzenkandidaten der Opposition, Donald Tusk

Foto: Beata Zawrzel/dpa

Eine Meldung vom 10. Oktober: Polens nationalkonservative Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hat einen Brief an die Kommunen des Landes verfasst, in dem sie deren Unterstützung fordert, um von Deutschland Reparationen für die Schäden des Zweiten Weltkrieges in Höhe von umgerechnet rund 1,3 Billionen Euro zu erhalten. Die PiS versucht seit Jahren, das Thema in der Debatte zu halten, und verlangt von der deutschen Regierung „eindeutige moralische, politische, historische sowie finanzielle Verantwortung“. Doch inzwischen wird das Thema weder in Polen noch im Ausland ernst ge- und auch immer weniger vernommen. Noch vor einigen Jahren, in äußerlich stabileren Zeiten, hatte es regelmäßig die Schlagzeilen gefüllt. Doch die Zeiten haben sich geändert.

So hat sich die internationale Situation an vielen Fronten – Krieg in der Ukraine und Fluchtmigration – verschärft, Polen steht dabei mittendrin. Auch wenn die PiS mit der Forderung nach Reparationen weder politisch noch finanziell punkten kann, spielt ihr die neue Instabilität durchaus in die Hände – gerade vor den anstehenden Parlamentswahlen am 15. Oktober. Den zupackenden, nationalistisch unterfütterten Umgang mit diesen Instabilitäten hat die Gruppierung um PiS-Chef und Vizepremierminister Jarosław Kaczyński zum Leitmotiv erkoren: „Eine sichere Zukunft der Polen“, wie der Slogan heißt, umfasst dabei sowohl verbesserte Sozialleistungen, aber vor allem: die Sicherheit vor Eindringlingen – seien es „illegale“ Migranten oder belarussische oder russische Truppen an der Weichsel.

Im Rahmen dieser Erzählung war sich die PiS auch nicht zu schade für eine sicherheitspolitisch fragwürdige Volte: Sie veröffentlichte geheime Verteidigungspläne der Vorgängerregierung von Donald Tusk aus dem Jahr 2011. Laut diesen sollte bei einem etwaigen russischen Angriff auf Polen die Verteidigungslinie zentral-östlich etwa entlang der Weichsel verlaufen. Die PiS tönte: „Tusk wollte ein Drittel des Landes, den Osten, kampflos hergeben.“

Chaos im Militär

Dessen ungeachtet hat die Formation von Ex-EU-Ratspräsident Donald Tusk durchaus Chancen, nach der Wahl die Führung in einem Dreiergespann zu übernehmen. Sein Oppositionsbündnis KO wird zwar nur zweitstärkste Kraft hinter der PiS werden. Doch wenn die konservativ-liberale Parteiallianz „Dritter Weg“ und die Linken die jeweiligen Hürden von acht beziehungsweise fünf Prozent nehmen und ein gutes Ergebnis einfahren, würde die KO und damit Tusk erneut die Regierung führen können. Einige der zuletzt fast täglich neuen Umfragen deuten darauf, dass dies in Reichweite ist – zumal die Vertreter der beiden kleineren Parteien bei der einzigen TV-Wahldebatte punkten und gegenüber Tusk und Regierungschef Mateusz Morawiecki ihr Profil schärfen konnten. Andere Umfragen deuten auf ein „Krisenszenario“ hin: keine eigenständige Mehrheit für den Dreier-Block, keine für die PiS – und die nationalistisch-libertäre Konfederacja als Zünglein an der Waage. Ob diese nun eine PiS-Minderheitsregierung stützen, wider Verlautbarungen eine Koalition mit der PiS bilden oder aber das Parlament lahmlegen und Neuwahlen erzwingen würde – in jedem dieser Fälle drohte Polen unvorhersehbares Chaos. Und nicht mehr nur äußere, sondern auch innere Instabilität.

Diese kündigt sich indes bereits vor der Wahl an. Denn zu Wochenbeginn legten die wichtigsten polnischen Militärs Präsident Andrzej Duda ihre Rücktrittsgesuche vor. Der Chef des Generalstabes der polnischen Armee Rajmund Andrzejczak sowie General Tomasz Piotrowski, Chef des Operationsstabes, waren seit Monaten im Konflikt mit Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak. Dieser hatte General Piotrowski bezichtigt, ihn nicht über den Einschlag einer russischen Rakete auf polnischem Gebiet im Dezember 2022 informiert zu haben. Laut Recherchen der Tageszeitung Gazeta Wyborcza habe Błaszczak zudem eigenmächtig über die Köpfe der Generäle hinweg Einsätze der Armee bei der Sicherung der Grenze zu Belarus sowie bei der Evakuierung polnischer Staatsbürger aus Israel geplant. Nicht zuletzt hat die gesamte PiS-Führung die Armee für Wahlkampfzwecke benutzt – und damit eine seit Jahrzehnten ungeschriebene Regel gebrochen.

Auch die Veröffentlichung der Verteidigungspläne von 2011 dürfte nicht zum Vertrauensgewinn der Militärführung geführt haben. Die Rücktritte der Generäle sind indes nicht nur eine Steilvorlage für die Opposition, die in der Schlussphase des Wahlkampfes versuchen wird, die Erzählung der PiS von der sicheren „Bastion Polen“ zu demontieren. Wenn kurz vor der Wahl die wichtigsten Militärs eines strategisch bedeutenden Nachbarlandes der Ukraine das Handtuch werfen, dann dürfte dies auch im NATO-Umfeld für Unruhe sorgen. Zuletzt hatte im September (im Kontext des Streits über die ukrainische Getreideeinfuhr nach Polen) die Ankündigung von Premierminister Morawiecki für Schlagzeilen gesorgt, keine weiteren Waffen an die Ukraine zu liefern. Auch wenn dies mehrheitlich als Wahlkampfrhetorik gewertet wurde: Polen gilt seither zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung hinsichtlich seiner Ukraine-Politik als labil. Zugleich mehren sich in Polen inzwischen ernsthafte Stimmen, die eine eigenständigere Außenpolitik fordern.

Der Jurist und Publizist Lech Mażewski etwa plädiert für eine „eigene Ostpolitik“ Polens, mit der Warschau nicht mehr nur ein „schlichter Transmissionsriemen amerikanischer Politik“ sein solle. Für diese polnische Ostpolitik müssten, wie es auch die PiS will, die EU-Föderalisierungspläne verworfen werden. Nur mit einer eigenständigen Politik gegenüber seinen Ost-Nachbarn könne sich Polen zugleich von einer Politik der „Dienerschaft für das ukrainische Volk“ emanzipieren und vermeiden, in künftige „Konflikte hineingezogen zu werden, die nicht die unseren sein müssen“. Die PiS, schreibt Mażewski in seiner Analyse in der Tageszeitung Rzeczpospolita, habe sich indes in der Rolle der „Dienerschaft“ gegenüber Kiew eingerichtet und strebe trotz zwischenzeitlicher Verwerfungen der vergangenen Wochen offenbar nichts anderes an als „eine Rückkehr zum vorherigen Status quo in den polnisch-ukrainischen Beziehungen“.

Klar ist: Polens bisheriger Kurs der Unterstützung für die Ukraine würde sich auch unter einer Koalition der drei Oppositionsparteien KO, Dritter Weg und Linke kaum ändern. Doch das Dreierbündnis würde sich, anders als die PiS, vor allem wieder an Brüssel und auch an Berlin annähern. Auch die Reparationsforderungen dürften dann in der Schublade verschwinden. Denn zu den Nutznießern des Reparationsstreits Polens mit Deutschland gehören bisweilen vor allem die USA. Die EU kann kein Interesse an schwelenden bilateralen Konflikten zwischen den Mitgliedern haben.

Washington indes spielt eine „unterbrochene Leitung“ zwischen Warschau und Berlin in die Hände: Es schwächt die EU und macht sie dadurch empfänglicher für weitere Schritte auf dem transatlantischen Kurs, zuungunsten der kontinentalen Option einer etwaig zukünftigen Wiederannäherung an Russland. Diese hatte Tusk in seinen beiden Amtszeiten als Premierminister (2007 bis 2014 im Amt) im Einvernehmen mit Deutschland, und durchaus im Interesse Polens, dezent angestrebt. Auch dies ein Vorwurf der PiS an ihn – ob dieser und andere Anfeindungen gegriffen haben, wird der Wahltag zeigen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden