Vor ziemlich genau 20 Jahren, am 15. Februar 2003, gingen in Berlin über eine halbe Million Menschen gegen den Krieg auf die Straße. Es war eine der größten Demonstrationen der deutschen Nachkriegszeit. Eine imperiale Weltmacht (damals: die USA) drohte, ein kleineres Land (damals: Irak) mit einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu überziehen. 2003 waren alle Linken und Liberalen und Friedensfreund*innen vereint in ihrem Protest. Niemand schwenkte irakische Fahnen. Niemand forderte Waffen für das legitime Selbstverteidigungsrecht der Iraker*innen. Der Schuldige, der Angreifer, der Völkerrechtsverletzer USA wurde als solcher benannt. Niemand führte die Vorgeschichte an, die horrenden Chemiewaffenangriffe Saddam Husseins 1988 in Halabja zum Beis
Ukrainekrieg: Wir Linke entzweien uns, anstatt gemeinsam gegen Aufrüstung zu kämpfen
Meinung Die Linke diskutiert, wie sie diesen Krieg beenden kann. Kann sie aber gar nicht. Es wäre an der Zeit, stattdessen den Widerstand gegen die umgreifende Aufrüstung zu mobilisieren
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Jan van Aken sucht nach linken Gewissheiten im Ukraine-Krieg
Foto: Presse
eispiel, oder die brutale Unterwerfung des eigenen Volkes. Es ging gegen den imperialistischen Krieg. Punkt.Was ist denn heute bloß los? Einige von jenen, die damals in trauter Eintracht gemeinsam auf die Straße gegangen sind, können heute nicht mehr den imperialistischen Krieg verurteilen, ohne gleich eine weitere, unversöhnliche Wahrheit zur Vorbedingung ihres Protestes zu machen: Eigentlich hat die NATO Schuld! Nur wer Waffen liefert, ist solidarisch! Der Atomkrieg droht, wir müssen Schaden vom deutschen Volk abwenden!Wer das nicht nachspricht, ist wahlweise Putinfreund oder NATO-hörig. Bin ich nicht, aber ich habe trotzdem Fragen.Das Problem ist gar nicht mal, dass es diese Wahrheitswisser*innen gibt. Die gab es früher auch. Nur heute schaffen sie es, mit ihrem Lautsprechertum große Verunsicherung unter die Menschen zu bringen. Ich war im Laufe des letzten Kriegsjahres sehr viel in Deutschland unterwegs, auf zig Veranstaltungen zum Ukraine-Krieg, und bin dabei vor allem auf Fragen und Zweifel gestoßen. Niemand, der dort zaghafte Zustimmung zu Waffenlieferungen äußerte, war deswegen gleich ein Kriegstreiber. Und andersrum war den Waffengegner*innen die Ukraine keinesfalls egal. Im Krieg gibt es keine einfachen Antworten, vielleicht ist es das, was wir wieder lernen müssen.Raul Zelik hat es hier im Freitag vor einigen Wochen vortrefflich gesagt: Alle realpolitischen Lösungen sind katastrophal. Unterwerfung der Ukraine oder jahrelanger Abnutzungskrieg – das sind gleichermaßen fürchterliche Perspektiven. Und plötzlich stehen wir vor der Frage, wie wir beide Katastrophen verhindern können. Wie einen gerechten Frieden für die Ukraine erreichen, ohne den Krieg zu befeuern?„Wir“ müssen den Krieg jetzt stoppen: Woher kommt eigentlich dieser Gedanke?Aber müssen wir diese Frage wirklich beantworten? Woher kommt eigentlich der Gedanke, dass „wir“ den Krieg stoppen und der Ukraine die volle nationale Souveränität wiedergeben könnten? Ich erinnere solche Anmutungen nicht aus dem Jahre 2003. Millionen hatten seinerzeit weltweit demonstriert, am Ende haben die USA den Krieg losgetreten, bis heute leiden die Menschen im Irak und in den Nachbarländern aufs Grausamste darunter. Die Täter sind nie zur Verantwortung gezogen worden, keine Sanktionen gegen die USA, keine Waffenlieferungen an den Irak.Und im Jemen? Oder ganz aktuell beim völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Türkei auf Nordsyrien? Wir protestieren, wir benennen die Schuldigen, wir versuchen es, aber wir unterliegen doch nicht dem Irrglauben, dass wir ein Patentrezept zum Stopp der Aggression entwickeln müssten. Die etwas älteren westdeutschen Männer werden sich noch gut an ihre Kriegsdienstverweigerung erinnern. Dort wurden uns ja genau solche moralischen Dilemmata vorgelegt. Damals gab es eine goldene Regel: Sobald du sie beantwortest, fliegst du durch. Es gibt keine richtige Antwort, wenn eine bewaffnete Horde deine Nachbarin überfällt und du – rein zufällig – ein Sturmgewehr in der Hand hast.Was ist anders im Ukraine-Krieg? Warum ringen wir in diesem Fall plötzlich darum, mit welchen konkreten Schritten der Krieg sicher beendet und die Ukraine sicher wieder souverän werden kann? Ich meine, nicht mal all die Waffenlieferer wissen, ob ihr Weg irgendwo anders hinführt als in den totalen Krieg, auch sie leben nur von Hoffnung und Illusionen. Warum spüren wir jetzt die Verantwortung, eine sichere Antwort auf diese Frage finden zu müssen? Die geografische Nähe spielt bestimmt eine Rolle, und auch die emotionale Nähe, weil viele von uns auch ukrainische Flüchtende zu Hause aufgenommen haben und damit direkten, persönlichen Anteil am Leiden haben. Dazu kommt noch, dass diesmal der Aggressor nicht aus dem Westen kommt, also außerhalb unserer gefühlten Einflusssphäre liegt und damit vielleicht noch mal ein ganz anderes Ohnmachtsgefühl auslöst.Putin oder NATO, dazwischen scheint es nichts mehr zu geben.Bemerkenswert – und anders als bei allen anderen Kriegen der letzten Jahrzehnte – ist das mediale Dauerfeuer, das sich vollkommen und ausschließlich um Waffen, schwere Waffen oder noch schwerere Waffen dreht. Wer in der Öffentlichkeit auch nur die Frage nach Alternativen stellt, wird sofort in einer Härte und Brutalität niedergemacht, wie ich es in meinem Leben hier in Deutschland noch nicht erlebt habe. Wir sind mit einer Debatten-Unkultur konfrontiert, die nur noch die reine Lehre und die einzig seligmachende Wahrheit kennt. Wie gesagt: Putin oder NATO, dazwischen scheint es nichts mehr zu geben.Das erinnert sehr an die Corona-Debatte, wo jegliche Meinung jenseits der eigenen Überzeugung sofort zur Verschwörungstheorie wurde. Wo diese brutale Härte herkommt, ob sie mit den (a)sozialen Medien, einem Erstarken rechter Narrative oder mit dem Fake-News-Diskurs zu tun haben, vermag ich nicht zu beantworten. Ich weiß nur eines: Wir müssen da raus. Auch in unseren eigenen Köpfen. Widersprüche auszuhalten, ist doch eine lang erlernte Disziplin unter Linken. Oder wie Elsa Köster es neulich geschrieben hat: Im Krieg für den Zweifel!Auch ich habe Zweifel. Mein Pazifismus ist kein radikaler, ich habe Verständnis dafür, dass die Menschen in der Ukraine sich mit der Waffe in der Hand verteidigen. Aber mein Pazifismus ist einer, der immer zuerst nach nicht-militärischen Lösungen sucht. Ein Pazifismus, der das Primat des Zivilen über das herrschende Primat des Militärischen stellt. Bevor wir also anfangen, über Waffen nachzudenken, sollten wir erstmal nach anderen Wegen zu einer friedlichen Beilegung des Konfliktes suchen. Wie wirksam sie am Ende wirklich sind, weiß ich nicht. Genauso wie niemand weiß, wie die Waffenlieferungen am Ende wirken. Ich weiß allerdings, dass zivile Mittel NICHT dem Risiko unterliegen, in eine weitere (unbeabsichtigte) Eskalation zu schlittern, wie sie bei der gegenwärtigen Kriegsführung immer gegeben ist.Es ist falsch, dass es in Deutschland seit 12 Monaten nicht mal möglich ist, über Diplomatie zu sprechen, ohne gleich ausgelacht zu werden. Die Welt ist größer als nur Russland und die NATO, China zum Beispiel hat großes Interesse an einer schnellen Beendigung des Krieges. Warum dauerte es fast ein Jahr, bis Olaf Scholz mal nach Peking gefahren ist? Wieso gab es nicht schon am 25. Februar europäisch-chinesische Verhandlungsformate? Und warum werden Vorschläge für gezielte, wirksamere Sanktionen wie die von Thomas Piketty erst gar nicht diskutiert?Es gibt Zweifel. Es gibt aber auch: Linke Gewissheiten. Die sollten wir nicht vergessenSolche Fragen können und müssen wir als Linke diskutieren, auch wenn am Ende immer die berechtigten Zweifel bleiben und die absehbaren realpolitischen Optionen wahrscheinlich wirklich katastrophal sind. An einigen Punkten gibt es aus meiner linken Sicht allerdings keinen Zweifel:Erstens, der Aggressor sitzt im Kreml, er steht im Zentrum unseres Protests.Zweiten stehen wir als Linke immer an der Seite der Unterdrückten und Verfolgten, das sind hier die Menschen in der Ukraine. Ihnen gilt unsere Solidarität, und die lässt sich auch mit humanitärer Hilfe, mit der Aufnahme von Flüchtenden (und nicht nur Deserteuren), ausdrücken.Drittens ist es unsere Verantwortung, heute schon an morgen zu denken, auch wenn es schwerfällt. Auch in 50 Jahren wird Russland noch unser Nachbar sein, und wir müssen heute schon die Ideen entwickeln und Voraussetzungen dafür schaffen, wie aus einer unversöhnlichen Feindschaft wieder ein gewaltfreies Nebeneinander oder bestenfalls sogar ein kooperatives Miteinander werden könnte. Die aktuelle Aufrüstung der Bundeswehr und anderer NATO-Staaten steht diesem Ziel massiv entgegen, denn sie führt in ein neues Wettrüsten.Deshalb ist jetzt der Moment, über neue Abrüstungs-Initiativen nachzudenken. Wenn du Frieden willst, bereite den Frieden vor. Das könnte auch das Momentum sein, an dem die deutsche Linke wieder zusammenfindet und nach vorn blicken kann. Denn an diesem Punkt sind wir uns alle vorbehaltlos einig: Das 100 Milliarden Aufrüstungspaket der Bundeswehr hat nichts mit der Ukraine und sehr viel mit dem Allmachtsanspruch der NATO zu tun. Anfang letzten Jahres gab es bereits Ansätze für einen breiten, gemeinsamen Widerstand gegen das 100-Mrd. Paket. Der dann leider an den unbeantwortbaren Fragen schnell wieder zerfallen ist. Das müssten wir doch eigentlich bald mal hinter uns lassen und wieder gemeinsam für eine friedlichere Welt kämpfen können. Ich für meinen Teil bin auf jeden Fall dabei.