Welt aus den Fugen

Tempo Nizza, Istanbul, Würzburg und jetzt München: Die Ereignisse stürmen auf uns ein und überfordern uns. Wir werden uns daran gewöhnen müssen
Ausgabe 29/2016
Trauer an der Promenade von Nizza
Trauer an der Promenade von Nizza

Foto: Valery Hache/AFP/Getty Images

Wenn man unsere Gegenwart mit einem Wort beschreiben sollte, dann wäre es Überforderung. Es ist zu viel. Zu viele Informationen zur gleichen Zeit. Zu viele Widersprüche. Zu viele Ansprüche. Baton Rouge, Nizza, Istanbul, Würzburg, München. Alles geschieht gleichzeitig. Alles fordert Mitgefühl, Nachdenklichkeit, Entschlossenheit – Aufmerksamkeit. Zu viel. Aber Gegenwart kennt keine Gnade. Wir werden uns daran gewöhnen müssen. So wie sich ein Mensch, der vom Land kommt, an den Lärm der Stadt gewöhnen muss. Mit einem Unterschied: Eine Rückkehr aufs Land kann es für uns nicht geben.

In den USA erschießt die Polizei Schwarze. Wir reden über Polizeigewalt und Rassismus. Dann erschießen Schwarze Polizisten. Wir reagieren darauf und debattieren über die Gefahren einer sich auflösenden Gesellschaft. In Nizza tötet ein Mann mehr als 80 Menschen mit einem Lastwagen. Wir richten unsere Aufmerksamkeit wieder nach Europa und sorgen uns um den islamistischen Terror. In Würzburg attackiert ein 17-jähriger Flüchtling aus Afghanistan Reisende in einem Zug und wird erschossen. Wir streiten um den Unterschied zwischen Terror und Amok, die Flüchtlingspolitik und einen Tweet von Renate Künast. Und dann war da noch die Türkei, der Putsch. Und der Gegenputsch. Jetzt München. Und morgen? Und wo ist der Ausgang?

Es gibt eine neue Zeitrechnung der Geschwindigkeit. Und sie ist noch nicht sehr alt. Das erste Schnelle Jahr liegt gerade fünf Jahre zurück. 2011 war das. Erinnert sich noch jemand? Der Rücktritt des Ministers Guttenberg, die Revolutionen in Ägypten und Libyen, die Anschläge von Anders Behring Breivik, der Tsunami in Japan und die Katastrophe von Fukushima, der deutsche Atomausstieg und schließlich wurde Winfried Kretschmann auch noch zum ersten grünen Ministerpräsidenten der Republik gewählt. Diese Ereignisse spielten sich damals im Verlauf eines Jahres ab und hielten das ganze Land in Atem. Heute kann man sich das glatt als Programm für die Sommermonate vorstellen. Aber das Gefühl der Überforderung hat uns seit damals nicht verlassen.

Niemand verfügt über so viel Aufmerksamkeit und niemand verfügt über so viel Empathie, wie heute vonnöten wäre. Mitleid ist eine endliche Ressource. Es braucht Zeit, sie aufzufüllen. Bei völliger Entleerung bleibt nur emotionale Erschöpfung zurück, Gleichgültigkeit. Und Entsetzen, vielleicht Scham, über sich selbst.

Die Beschleunigung nimmt zu. Eine solche Feststellung so lange nach dem Beginn des Zeitalters der Beschleunigung wirkt beinahe unsinnig. Aber sie ist wahr. Die Geschwindigkeit steigt und die Kontrolle geht verloren. Im Griechischen ist der kybernetes der Steuermann, der dafür sorgt, dass der Kurs anliegt. Die Kybernetik ist die Lehre von der Steuerung der Systeme. Unsere Gegenwart ist ein kybernetisches Desaster. Unsere Fähigkeit, den Kurs zu steuern, nimmt mit dem Tempo ab, zu dem wir gezwungen sind. Die Bremsen versagen nicht. Es gibt keine. Der Ausnahmezustand ist unser Normalzustand.

Angst ist die größte Bedrohung der Zivilisation

Mit der Beschleunigung wächst darum auch die Angst. Es ist kein Zufall, dass Terrorismus und Populismus sich zur gleichen Zeit ausbreiten. Beide Phänomene leben von der Angst. Die Angst ist die größte Bedrohung der Zivilisation. Und die Bändigung der Angst ist die eigentliche zivilisatorische Leistung. Aber wer schon mal Angst hatte, weiß: Das ist leicht gesagt.

Zeitgenosse zu sein, ist eine anspruchsvolle Angelegenheit. Wir wissen: Die Globalisierung, das Internet – es wird nicht mehr weggehen. Also versuchen wir uns anzupassen, zu lernen. Über die Gesellschaft und den Menschen gäbe es im Moment eine ganze Menge zu lernen. Wir ahnen, dass Helmut Schmidt Recht hatte, als er im Jahr 1997 schrieb: „Ohne Pflege der bürgerlichen Tugenden wird unsere Gesellschaft zu einem politisierenden Gerangel der Interessenhaufen verkommen.“ Das ist, mit Blick auf die zerrissenen Gesellschaften des Westens, noch freundlich formuliert. Der Bund ist brüchig. Das Bindende schwindet.

Warum ist das so? Vielleicht, weil auch die Demokratie einfach sterblich ist. Wenn sie ihre Versprechen nicht einlöst, wird sie durch etwas anderes ersetzt. Der Westen hat nie Gleichheit versprochen. Aber Gerechtigkeit. Die Menschen wurden darum betrogen. In der Philosophie kennt man den „naturalistischen Fehlschluss“ – nur weil etwas existiert, heißt das nicht, dass es auch gut ist. Und es gibt auch den moralistischen Fehlschluss: die Tatsache allein, dass wir eine Eigenschaft für gut befinden, heißt noch lange nicht, dass sie natürlich ist. Es könnte also auch ein moralistischer Fehlschluss vorliegen, wenn wir glauben, alle Menschen wollten vernünftige, gute Demokraten sein. Vielleicht gibt es einfach eine ziemlich große Anzahl von Menschen, die es vorzieht, lieber ein Arschloch zu sein.

Der Philosoph und ehemalige britische Großrabbiner Jonathan Sacks hat einmal daran erinnert, dass Optimismus und Hoffnung nicht dasselbe sind. Optimismus ist der Glaube daran, dass die Dinge besser werden. Hoffnung ist der Glaube daran, dass wir die Dinge gemeinsam besser machen können. Optimismus ist eine passive Tugend, Hoffnung ist eine aktive. „Es bedarf keines Mutes, um ein Optimist zu sein“, sagte Sacks, „aber einer Menge, um Hoffnung zu haben.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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