Zu allem darf man eine Meinung haben. Sei es das Kopftuch für Beamtinnen, sei es die Pipeline Nord Stream 2, sei es die Förderung von ökologischer Landwirtschaft oder die sprachliche Berücksichtigung von Geschlechtsidentitäten.
Nur Kultur, ausgerechnet, bleibt beim Wahl-O-Maten außen vor, den die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) vor ein paar Tagen freigeschaltet hat: „Kulturlos“ sei die Entscheidungshilfe, beschwerte sich der Deutsche Kulturrat am Sonntag in einer Pressemitteilung. Bei den 38 Thesen, die von der bpb ausgewählt wurden und die aus – siehe oben – ganz verschiedenen innen- und außenpolitischen Bereichen stammen, fehle schlichtweg die Kulturpolitik.
Dabei gibt es doch so viel, über das man in dem Zusammenhang streiten könnte – nicht etwa, wie sonst oft in dem Bereich üblich, über Geschmack. De gustibus non est disputandum. Aber die Frage nach dem Umgang mit dem Urheberrecht, der Verankerung der Kultur im Grundgesetz, einem möglichen Bundeskulturministerium, der besseren Absicherung von Künstler:innen während und nach der Krise – hätte all das nicht hineingehört in die Thesensammlung, die Millionen von Bürger:innen dabei helfen soll, Ende September ihre Kreuzchen an der für sie richtigen und wichtigen Stelle zu machen?
Ja, hätte es. Die „Kulturlosigkeit“ des Wahl-O-Maten übergeht einen großen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich und spricht ihm durch die Nichtbeachtung Relevanz ab. Doch das hat nicht die bpb verbockt: Ein halbes Jahr haben die zuständigen Redakteur:innen und Expert:innen an der Auswahl gearbeitet, Parteiprogramme gewälzt, Workshops veranstaltet, sich besprochen, und aus ursprünglich 80 Thesen 38 herauskristallisiert. Und sie haben diese programmatischen Aussagen den Parteien vorgelegt, zur Zu- und Abstimmung.
Dass anscheinend parteiübergreifend niemandem aufgefallen ist, was fehlt, das ist das eigentliche Problem. Nicht mal den Grünen, für die sich hoffnungsvoll soeben ein Bündnis aus Musiker:innen, Film- und Theaterbranche mit dem Aufruf #DiesmalGrün starkgemacht und klar als Unterstützer positioniert hat. Sollte die Unterstützung nicht in beide Richtungen funktionieren, und zwar nicht nur finanziell auf Nachfrage während der Coronakrise? Oder wie ist es gemeint, wenn im Wahlkampf Parteien dezidiert die Nähe zu Kulturschaffenden suchen?
Vielleicht haben die Thesenauswahl-Prüfer:innen der jeweiligen Parteien Künstler:innen mitgemeint, wenn sie über den gesetzlichen Mindestlohn und das Arbeiten im Home Office abstimmen lassen. Oder sie fanden das Thema zu komplex, um es in einen oder mehrere Sätze zu packen.
Ist es ja auch: Die Kulturbranche mit ihren individuellen Lebensentwürfen, den komplizierten Wechselwirkungen von Talent, Ideen, Aufmerksamkeit, Öffentlichkeit und Geschmack, den immanenten Unsicherheiten, tarifvertragsfreien Bezahlungen und zuweilen exaltierten Protagonist:innen mag als Gruppe enorm heterogen wirken. Aber sie ist genauso politisch wie alle anderen, sie ist genauso interessiert, pflichtbewusst und nachdenklich. Eine klitzekleine These hätte man sich doch für sie ausdenken können, man hätte es bestimmt geschafft, ohne das leidige Wort „Systemrelevanz“ zu bemühen. Man darf die Herausforderungen der Kulturbranche bei solchen Gedankenanstößen nicht ignorieren. Sonst setzt es irgendwann zur Strafe Spottlieder.
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