In der Vergangenheit spielende Serien und Science-Fiction-Filme, die die Zukunft vorwegnehmen, ähneln sich zuweilen in ihrer Fiktionalität. Je weiter das historische Ereignis zurückliegt, desto spekulativer wird das Geschichtsdrama. Was auf uns zukommt, ist ebenfalls noch hypothetisch. Dennoch gibt es einen großen Unterschied zwischen dem Blick nach hinten und dem nach vorn. Denn was bereits passiert ist, entzieht sich– egal wie schrecklich – unserem Einfluss. Ob im Jahr 2049 dagegen tatsächlich die Durchschnittstemperatur in Deutschland auf knapp 50 Grad ansteigt; ob Menschen vor (hitzebedingten) Waldbränden aus den USA nach Europa fliehen – und dort als „Geflüchtete“ mit dementsprechenden Ressentiments behandelt werden; und
und ob Diversität sich als anerkannter Gerechtigkeitsfaktor in der Gesellschaft durchgesetzt hat, das liegt bei uns. Schließlich sind wir es, die die Zukunft gestalten.Die vierte Staffel „Charité“ ist gar nicht so futuristischDie neue Staffel der Krankenhausserie Charité spielt in ebendieser ungewissen Zukunft: In einem Vierteljahrhundert tragen die Menschen kleine, kunstvoll gestaltete Ohrmanschetten-Handys, die sie per Sprachsteuerung nutzen. Operationen werden von Robotern durchgeführt, die Ärzt:innen lenken sie im virtuellen Raum. „Exoskelette“ helfen Gehunfähigen, es gibt Beziehungsformen über die „romantische Zweierbeziehung“ hinaus, die Menschen sind multikulturell und (über einen Live-Translator) multilingual, die Nachrichten gendern. Selbst der Staatsschutz spricht wie selbstverständlich von „Mitarbeitenden“.Das hochmoderne Hospital steht in der neuen Staffel am Rande eines Waldes. Die von der gleißenden Sonne bestrahlte Berliner Kulisse wird zwar noch immer vom Fernsehturm geprägt, einige modernistische Skyscraper sind jedoch dazugekommen. Die designierten Probleme, mit denen sich die Ärzt:innen, allen voran Dr. Maral Safadi (Sesede Terziyan) und ihre Mutter, Dr. Seda Safadi (Adriana Altaras) konfrontiert sehen, wurzeln in der Zeit: Beim klimawandelbedingten Auftauen des Permafrost am Nordpol ist ein „Paleo-Bakterium“ in die Nordsee gespült worden, und bedroht nun die Menschheit. „Mikroplastikvergiftung“ ist ein Problem. Daneben spaltet eine neue Gesundheitsreform die Gesellschaft: Wer sich nicht selbst darum kümmert, gesund zu bleiben, fällt durch das Raster und verliert seinen Anspruch auf medizinische Versorgung.All diese „Dystopien“, sogar die Idee des steinzeitlichen, hochgefährlichen Virus, werden schon eine Weile in verschiedenen Köpfen gewälzt. Der Klimawandel ist real und menschengemacht, und angesichts der aktuellen Nachrichten über die damit verbundenen, katastrophalen Konsequenzen wirkt die vierte Staffel Charité erstaunlich wenig utopisch beziehungsweise dystopisch.In der „Schattenklinik“ werden Nicht-Versicherte behandeltDie Rezeption der neuen Geschichten um das Krankenhaus, deren erste, im 19. Jahrhundert spielende Staffel 2017 teilweise einen fantastischen Marktanteil von 25 Prozent der Zuschauenden (8,32 Millionen) erreichte, scheint die Gesellschaft jedoch zu überfordern: Zwar waren die Quoten schon mit den Staffeln zwei und drei, die während des Zweiten Weltkriegs und um den Mauerbau angesiedelt waren, merklich eingebrochen. Doch die (gar nicht mal so) futuristischen Probleme interessieren anscheinend kaum jemanden. Am Ende der Ausstrahlung Anfang April schauten nicht mal mehr zwei Millionen Menschen dabei zu, wie in der „Schattenklinik“ heimlich Nicht-Versicherte behandelt werden, oder ein Neurotechnologe Locked-In-Patient:innen per Elektrodenkappe im Cyberverse therapiert.Die Quotenschlappe kann dabei keine formalen Gründe haben – auch in den von den Drehbuchautor:innen Dorothee Schön, Sabine Thor-Wiedemann, Stefan Dähnert, Christine Hartmann und Thomas Laue geschriebenen ersten drei Staffeln gab es ab und an etwas zu viel Didaktik, einen – im Gegensatz zu US-Vorbildern wie The Knick zu betulichen Rhythmus und etwas zu wenig Humor und Authentizität. Und die zuvor von Sönke Wortmann, Anno Saul und Christine Hartmann inszenierten Darsteller:innen spielten auch früher schon teilweise überdeutlich.Dass die von David Grabowski und Jonas Nay komponierte, viel zu prominent eingesetzte Musik in der vierten Staffel zudem statt futuristischer Vibes eher das dick aufgetragene Fernsehdrama beschwört, mindert die Qualität der verstörend-realistischen Drehbuch-Ideen ebenfalls kaum. Und wenn Marals Sohn einer seiner Mütter entgegenschleudert: „Das ist so biokonservativ!“, weil sie sich gegen das Einsetzen eines optimierenden Nanochips ausspricht, klingt das nur im ersten Moment albern. Momentan vergeht schließlich kaum ein Tag, ohne dass man eine zunächst ungewohnt wirkende, dann aber doch passende Beschreibung in seinen Wortschatz aufnehmen könnte.Nein – das Fernsehpublikum (und auch das ist schon eine Einschränkung) möchte schlichtweg nicht sehen, was passieren wird. Möchte sich nicht damit auseinandersetzen, was man hätte vermeiden können. Hat die Nase voll von Diskussionen über Gendergerechtigkeit, Klimawandel und Sozialmoral. Im Blick nach hinten scheint zur Zeit der größere und vielversprechendere Eskapismus zu liegen, als in dem nach vorn. Selbst wenn man dabei auf vergangene Weltkriege schaut.