Chantal Mouffe und der neue linke Populismus: Revolution mit Leidenschaft
Theorie Eine grüne demokratische Revolution braucht Leidenschaft, nicht nur Argumente. Der Philosoph Jörg Phil Friedrich erklärt, was von Chantal Mouffes Konzept zu halten ist
Chantal Mouffe sollte ihre Affekte-Kritik einmal gegen ihr eigenes Schreiben wenden
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Es sind gerade 90 Seiten, auf denen Chantal Mouffe ihre Revolutions-Ideen entwickelt. Die emeritierte Professorin für Politische Theorie an der University of Westminster bleibt damit auch mit 80 Jahren ihrer Gewohnheit treu, ihre Thesen im Manifest-Umfang zu entwickeln. Auch inhaltlich ist Eine Grüne demokratische Revolution (im englischen Original sind alle Wörter großgeschrieben) eine Fortsetzung und Weiterentwicklung der Ideen der vorangegangenen. Oft wird auf diese verwiesen, aber es ist nicht notwendig, die alle gelesen und verstanden zu haben, um das aktuelle Buch zu verstehen. Allenfalls, wenn man die Begründung derjenigen Thesen, die hier als gegeben genutzt werden, detailliert hergeleitet bekommen möchte, sollte man auf die Schriften Agonistik, Ü
eleitet bekommen möchte, sollte man auf die Schriften Agonistik, Über das Politische und Für einen linken Populismus zurückgreifen, die in den letzten Jahren ebenfalls in der Edition Suhrkamp erschienen sind.Demokratie kein gleichberechtigter DiskursDie zentrale Idee der politischen Theorie der Philosophin besteht darin, dass in der Demokratie gegnerische Kräfte gegeneinander antreten, von denen eine im Ergebnis die Herrschaft übernimmt und die andere unterdrückt. Demokratie besteht also keineswegs darin, dass in einem gleichberechtigten Diskurs ein Konsens über den richtigen oder besten Weg hergestellt wird, wie es sich Jürgen Habermas idealerweise vorstellte. Deshalb wird, auch in diesem Buch, Habermas’ Entwurf einer „deliberativen Demokratie“ in Mouffes Schriften immer wieder als Gegentheorie aufgerufen. Habermas sieht zwar inzwischen auch, dass politische Auseinandersetzung nicht allein durch rationale Aushandlungsprozesse möglich ist, interessant ist nebenbei, dass er Mouffe selten mit einem Wort erwähnt.Demokratische Politik ist also zunächst Machtkampf, wobei die parlamentarischen Spielregeln sichern, dass der ohne Blutvergießen stattfindet und dass sich keine Seite, einmal an der Macht, durch Abschaffung der Demokratie auf Dauer die Machtoptionen einer Diktatur verschaffen kann. In ihrem neuen Buch setzt Mouffe bei der empirischen Einsicht an, dass es den neoliberalen und zunehmend den rechts-außen agierenden Kräften weit besser gelingt, diesen Machtkampf zu führen, als den linken. Sie will aufzeigen, woran das liegt, und Vorschläge machen, wie das geändert werden kann. Dafür gliedert sich das Buch in vier Abschnitte.Der erste ist eine Beschreibung der gegenwärtigen Situation. Auf der einen Seite diagnostiziert sie einen Konsens der Parteien der Mitte, nach dem es „zur neoliberalen Globalisierung keine Alternative“ gebe. Das Ergebnis, so Mouffe, ist „sowohl sozioökonomisch als auch politisch ein wahrhaft oligarchisches System“. Und weiter: „Alle, die sich diesem postdemokratischen ‚Konsens der Mitte‘ entgegenstellen, werden als Extremistinnen dargestellt und als Populistinnen denunziert.“Dazu kommt, dass der Neoliberalismus es verstanden hat, die Coronapandemie zu seinem Vorteil zu nutzen, etwa durch die „Sicherheitsmaßnahmen aus dem Tech-Bereich“, durch die „Tech-Giganten während der Pandemie enorme Gewinne erwirtschaften“ konnten, auch dadurch, dass „wichtige Entscheidungen darüber, wie wir unser Zusammenleben organisieren, (…) an Unternehmen wie Amazon, Google und Apple ausgelagert“ wurden. Die Unternehmen erhielten Zugriff auf öffentliche Mittel, während die demokratische Kontrolle ausgeschaltet wurde. Nach der Pandemie kann das Bedürfnis nach Schutz dazu genutzt werden, digitale Formen der Kontrolle zu akzeptieren. „Dieser autoritäre digitale Neoliberalismus wird mit einem angesagten ‚technologischen Solutionismus‘ gerechtfertigt“, so Mouffe.„Globalistische Linke“ verschließt sich dem Thema AffekteDie genannten Sicherheits- und Schutzbedürfnisse sind im zweiten Abschnitt des Buchs der Ausgangspunkt für Mouffe, das Thema „Politik und Affekte“ erneut darzustellen. Denn diese Bedürfnisse sind einer rationalistischen Argumentation nicht zugänglich. Mouffe beklagt zu Recht, dass diese Einsicht bei rechten und neoliberalen politischen Kräften längst angekommen ist und genutzt wird, während gerade die „globalistische Linke“ sich dem Thema Affekte verschließt und Politik ausschließlich auf der Basis der Überzeugungskraft rationalistischer Fakten und Schlussfolgerungen betreiben will.Vielleicht, so sei an dieser Stelle kritisch angemerkt, sollte Mouffe diese Kritik auch einmal gegen ihr eigenes Schreiben wenden. Ihre Schriften sind selbst ein rationalistisches Projekt, sie argumentiert ausschließlich mit sachlichen und logisch schlüssigen Argumenten. Auch sie erreicht nicht die affektiven Schichten ihres Publikums. Oder genauer: Sie trifft die Affekte der globalistischen Linken vielleicht genau auf eine Weise, die ihrem Anliegen schadet. Seit vielen Jahren schreibt sie nun von einem notwendigen „linken Populismus“, der Affekte der Menschen berücksichtigen und nutzen soll – aber sie sieht nicht, dass gerade die Begriffe „Populismus“ und „Affekte“ sogleich Aversionen und Ablehnung auslösen, die es verhindern, ihren eigentlichen Argumenten zu folgen.Der dritte Abschnitt des Buchs ist der philosophisch wichtigste. Hier stellt Mouffe die anthropologischen Grundlagen ihrer politischen Theorie vor: Der Mensch ist nicht nur rational, logisch schlussfolgerndes und entsprechend handelndes Wesen, er ist vor allem auch affektives, leidenschaftliches Wesen – wobei die Philosophin das Wort „Leidenschaft“ im Gegensatz zu „Emotion“ für diejenigen Gefühlsregungen verwendet, die auf „Gemeinschaft“ bezogen sind.Für Mouffe ist es wichtig, dass Menschen sich identifizieren wollen, dass sie sozusagen zu einer Gemeinschaft dazugehören wollen. Interessant für aktuelle Diskurse ist hier ihre Abgrenzung zwischen Identität und Identifikation. An den Wunsch zur Identifikation muss Politik ansetzen, insbesondere dann, wenn sie die Gesellschaft verändern will. Mouffe verweist darauf, wie gut das den politischen Kräften am rechten Rand gelingt und wie schwer sich wiederum die Linken damit tun. Es ist wohl nicht weit hergeholt, für Deutschland dabei an das Verhältnis zwischen Sahra Wagenknecht und ihrer Partei zu denken.Mit Positivem identifizierenAus der Sicht des Rezensenten am schwächsten ist der vierte Abschnitt des Buchs. Hier versucht die Autorin, so etwas wie ein Konzept zu entwickeln, wie Leidenschaften für eine radikale demokratische Revolution genutzt werden könnten. Welche Identifikation eine solche Bewegung bieten könnte, die gerade nicht rationalistisch und hoch theoretisch konstruiert werden muss, bleibt dem Schreiber dieser Zeilen unklar.Nachvollziehbar ist allenfalls, wer der Gegner dieser Bewegung wäre: Es ist der neoliberale Komplex aus Finanzkapital und Tech-Giganten zusammen mit den politischen Parteien der Mitte, deren Konsens, wie gesagt, darin besteht, dass an neoliberalen Problemlösungen kein Weg vorbeiführt. Aber womit sollen sich trotz dieses gemeinsamen Gegners all die unterschiedlichen „linken Kräfte“ von der Klimarettung bis zur Arbeiterbewegung gemeinsam positiv identifizieren, sodass daraus so etwas wie eine Massenbewegung entstehen könnte, die demokratisch die Herrschaft übernimmt? Das bleibt unbeantwortet.Vielleicht ist es so, dass der weite Sammelbegriff der „Linken“ so lange nicht zu einer Identifikation taugt, bis endlich mal wieder jemand den Mut findet, einen positiven, umfassenden Entwurf von einer Gesellschaft zu formulieren, die nicht den neoliberalen Prinzipien gehorcht, die Mouffe zu Recht angreift. Aber das wäre ein anderes Werk, das wohl jemand anderes schreiben muss. Diese Autorin wird an Mouffes Analysen anknüpfen können.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1