Stresstest fürs Land

Migration Anstatt Einwanderung zu fördern, versuchen die Mitgliedsstaaten der EU Zuwanderung um jeden Preis zu begrenzen. Ist es jetzt vorbei mit dem „Willkommen“?
Ausgabe 15/2017
Mehr "Must" als "Crime"
Mehr "Must" als "Crime"

Foto: Matt Cardy/Getty Images

Zoomen wir in die Zukunft und imaginieren wir für einen Moment ein friedlich globalisiertes Europa – einen Kontinent ohne Zäune und Mauern nach innen, mit einer offenen Grenze nach außen. Mit sicheren Fluchtwegen, unterstützt von der Befriedung internationaler Konflikte. Der Altersdurchschnitt der Bevölkerung wäre um 15 Jahre gesunken, und unsere europäischen Nachfahren würden lachen über eine Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, welche im Jahr 2017 eine wachsende Angst und Ablehnung des Fremden feststellte.

Die Studie Willkommenskultur im Stresstest des Meinungsforschungsinstitutes Kantar Emnid zeichnet jetzt genau das: ein gänzlich gegenteiliges Bild zum optimistischen Szenario. In Deutschland, das seit 2015 rund 1,2 Millionen Geflüchtete aufgenommen hat, sind die Zustimmungswerte für Zuwanderer gesunken. 54 Prozent der Befragten geben nun an, die Belastungsgrenze sei erreicht – vor zwei Jahren waren es nur 40 Prozent. Im Osten Deutschlands hat die Skepsis noch stärker zugenommen als im Westen. Auch wenn insgesamt 70 Prozent aller Befragten glauben, die Bevölkerung insgesamt heiße Einwanderer willkommen: Wirklich hierbehalten will man die Menschen dann doch lieber nicht. Das Bedürfnis nach einer gerechteren Verteilung in Europa wächst.

Die Tendenz geht also in Richtung Abschottung. Das geht einher mit einer Diskursverschiebung im öffentlichen Raum. Etwa wenn der Krieg, vor dem Menschen fliehen, als Makel an ihnen haften bleibt. Wenn sie als Terrorgefahr, nicht als Schutzsuchende gesehen werden. Wenn über eine Obergrenze diskutiert wird, die zwar gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstößt, aber quer durch alle Talkshowformate als seriöses Diskussionsthema gehandelt wird. Wenn Sozialdemokraten die härtesten Asylrechtsverschärfungen der vergangenen 15 Jahre abnicken. Wenn bis weit in eine querfrontlerisch gepolte Linke hinein behauptet wird: „Wer Gastrecht missbraucht, hat Gastrecht verwirkt.“ Wenn mangelhafte Lohnpolitik und Ängste der sogenannten kleinen Leute gegen eine soziale Einwanderungspolitik ausgespielt werden.

Erst kürzlich zeigte eine US-Studie, wie rechter Journalismus á la Breitbart das Ökosystem der Medien manipuliert: Statt eigene Narrative zu entwickeln, gingen linke und liberale Medien auf die von Rechten gesetzten (und teils mit falschen Behauptungen forcierten) Themen ein. Auch hierzulande ersticken rechte Stimmen das Gespräch über die Vorteile von Migration. Etwa das enorme Wissen und die wertvollen kulturellen Gepflogenheiten, die mit Zuwanderern ins Land kommen, zum Beispiel im Umgang mit Alten. Statt Ambivalenz und Hybridität als Chance zu sehen, wird die Fiktion eines besseren, „reineren“ Vorhers beschworen.

Das eingangs beschworene Zukunftsszenario hat der belgische Künstler Thomas Bellinck vergangenen Sommer auf der Wiesbaden Biennale thematisiert: In der Ausstellung Das Asyl des müden Europäers hieß es: „Anstatt die Einwanderung zu fördern, versuchten die Mitgliedsstaaten der EU zu Beginn des 21. Jahrhunderts, den Zustrom von Migranten um jeden Preis zu begrenzen. Trotz schrumpfender Bevölkerungszahlen wurde Migration als Belastung, nicht als Notwendigkeit gesehen.“ Dieser Denkweise bezeichnete Bellnick als „demografische Bulimie“.

Und schließlich wird eines dieser Tage nur zu gern vergessen: Die größte Migrationsbewegung steht wohl noch bevor – die der Klimaflüchtlinge.

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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