David Cameron und das kollektive Bewusstsein

Britische Identität Großbritanniens Premierminister Cameron verordnet seinem Land einen "muskulösen Liberalismus". Versuch einer Einschätzung

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David Cameron und das kollektive Bewusstsein

Foto: Oli Scarff / Getty

Wer ins Geschichtsbuch will, sollte am besten für einen -ismus stehen. Darüber, worin dieser besteht, lässt sich oft lange streiten - ob er nun schon eine Weile zurückliegt wie der Thatcherismus der kürzlich verstorbenen Ex-Premierministerin Großbritanniens, oder ob es sich um eine scheinbare oder tatsächliche Neuschöpfung handelt.

David Cameron, Premierminister und Schriftenleser auf Thatchers Begräbnisfeierlichkeit am Mittwoch, versucht es seit gut zwei Jahren mit dem muskulösen Liberalismus.

Ideologie

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2011 wandte sich Cameron der Tatsache zu, dass die Bedrohung der inneren Sicherheit auch auf Anschläge von Tätern zurückzuführen sei, die Bürger des eigenen Landes seien. Eine bestimmte Form des politischen extremen Islamismus sei eine der Gefahrenquellen. Camerons Schlussfolgerung:

Im Vereinigten Königreich finden es einige junge Männer schwierig, sich mit dem traditionellen Islam zu identifizieren, wie ihre Eltern ihn praktizieren, und dessen Bräuche farblos wirken können wenn sie in moderne westliche Länder transplantiert werden. Aber diese jungen Männer finden es außerdem schwierig, sich mit Britannien zu idenfifizieren, weil wir die Schwächung unserer kollektiven Identität zugelassen haben. Unter der Doktrin staatlichen Multikulturalismus haben wir verschiedene Kulturen dazu ermutigt, getrennte Leben zu führen, getrennt voneinander und abseits vom Mainstream. Wir sind daran gescheitert, eine gesellschaftliche Vision zu bieten, zu der sie gehören möchten. Wir haben sogar ein Verhalten solch abgetrennter Gesellschaften toleriert, das unseren Werten zuwiderläuft.

Gewalttätiger Extremismus sei manchmal eben die Stufe, die sich in einer solchen Karriere an den nicht-gewalttätigen Extremismus anschließe, befand Cameron. Er suchte die ideologische Auseinandersetzung mit dem islamistischen Extremismus - von einer passiven Toleranz zu einem viel aktiveren, muskulösen Liberalismus.

Sprachkompetenz bei Einwanderern, Bildung hinsichtlich der Elemente einer gemeinsamen Kultur und eines gemeinsamen Lehrplans seien dabei praktische Elemente. Zuvor aber nannte Cameron die ideologischen Notwendigkeiten, wie er sie sah:

Redefreiheit, Religionsfreiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, gleiche Rechte ungeachtet von Rasse, Geschlecht oder Sexualität. [Ein wirklich liberales Land] sagt seinen Bürgern, dies macht unsere Gesellschaft aus: Zugehörigkeit besteht darin, an diese Dinge zu glauben. Nun muss, glaube ich, jeder von uns in seinem Land eindeutig und nüchtern sein in der Verteidigung unserer Freiheit.

Über Ideen oder Ideologien wie diese befindet kein Nobelpreiskomitee. Insofern stellt sich auch niemandem zwingend die Aufgabe, die Urheberschaft an solchen Gedankengebäuden zu ermitteln. Manches spricht dafür, dass das Konzept gar nicht so neu sei - und als reines Bekehrungsprogramm für Menschen mit Migrationshintergrund ist es wohl auch nicht zu verstehen, sondern eher als Teil einer Zielhierarchie, zum allgemeineren Zweck einer gehobenen (oder erhebenden) nationalen Selbstwahrnehmung.

Einige Spuren der Umsetzung lassen sich möglicherweise bereits erkennen.

Nobody is perfect: der stotternde König

Im Januar 2011 kam The King's Speech in die Kinos - ein überaus identitätsstiftender Film. Der zweite Sohn des Königs Georg V. (und später selbst König Georg VI. - musste hart an seiner Kernkompetenz arbeiten, nämlich der Fähigkeit, einigermaßen stockungsfrei zum britischen Volk zu sprechen. Es dauerte nicht lange, und der Streit über die historische Genauigkeit des Films, oder seinen absichtsvoll ungenauen Umgang mit der Geschichte, hatte begonnen. The King's Speech fehle die grundlegende historische Wahrheit und das Element kritischer Verpflichtung, das über Erfolg und Misserfolg eines historischen Films entscheide, urteilte der Kritiker Paul Bond auf der World Socialist Website.

Königin Elizabeth II., Tochter George V., ließ sich indirekt zitieren: der Film habe sie berührt. Die Presse trug die Botschaft weiter.

Über den langfristigen Effekt dieses Films im "kollektiven" britischen Bewusstsein lassen sich bisher wohl allenfalls Vermutungen anstellen.

Der seekranke Seeoffizier

Aber auch in der Vergangenheit hatte Britannien seine positiven Helden - darunter auch fiktionale Helden. Horatio Hornblower, eine Figur des Schriftstellers C. S. Forester, war vor allem Lord Nelson nachgebildet, aber auch vielen anderen Seehelden während der napoleonischen Kriege. Möglichkeiten der Identifikation mit ihm gab es genug: Hornblower wurde nicht als unanfechtbarer Held dargestellt, und nicht als glühender Verehrer der Monarchie. Das passte in die Zeit der 1930er, als die ersten Romane erschienen: auch damals war die Monarchie in Großbritannien ja nicht unumstritten. Vor allem aber war Hornblower - ob von Forester so gewollt oder nicht - ein Held derjenigen, die Großbritannien auf einen möglichen zweiten Krieg binnen zwanzig Jahren vorbereiten wollten. Winston Churchill, damals noch ein relativ einsamer Rufer in der Wüste, wenn es um Warnungen vor Hitlers Aufrüstung ging, fand Hornblower - spätestens nach dem Ende des 2. Weltkrieges - bewundernswert.

The Happy Return erschien 1937, zwei Jahre vor dem Krieg. Zwei weitere Romane folgten 1938. Hornblower war kein perfekter, aber erfolgreicher "Held" - ein zur Seekrankheit neigender Seeoffizier, der dem napoleonischen Empire Schlag auf Schlag versetzte. Jeder Brite war ein potenzieller Hornblower.

Aber wenn Hornblower ein Propagandawerk war - und darüber dürfte sich streiten lassen -, so war er doch auch ein enormer literarischer Erfolg Foresters. Auch nach dem Krieg - bis in die 1960er Jahre - setzte Forester die Reihe fort.

Operationen am offenen Bewusstsein

Die größte Schwäche der Cameronschen Versuche, die britische Zivilgesellschaft und die britische Identität zu stärken, liegt vermutlich in ihrer Absichtlichkeit. Camerons Initiativen - und die der britischen Eliten - sind öffentlich nachverfolgbar. Und wenn am kollektiven Bewusstsein gebastelt werden soll, liegt der Verdacht der Manipulation nicht fern.

Joseph Nye, ein Politologe an der Harvard University, veröffentlichte 2004 ein Buch - Soft Power: The Means to Success in World Politics. Es ging, vergröbert beschrieben, um den internationalen Einfluss, den eine Nation durch ihre Attraktivität gewinnt - eine Attraktivität, die nicht in erster Linie in ökonomischer oder militärischer Macht besteht, sondern in der Inspiration, die sie im Ausland hervorruft. (Das soll nicht heißen, dass soft power und reale Macht stets voneinander getrennt existieren.)

Nach Vorstellungen chinesischer Akademiker soll soft power nicht nur nach außen, sondern auch nach innen wirken. Das, was Ausländer inspiriert, soll auch Inländer inspirieren und zu einer verstärkten Identifikation mit dem eigenen Land führen. Nach Ansicht einer Reihe vergleichsweise liberaler chinesischer Wissenschaftler beginnt soft power überhaupt erst einmal zu Hause - durch überzeugende politische Praxis, und durch eine Zivilgesellschaft, die auch unabhängig vom Staat existiere. Das bleibt für chinesische Verhältnisse einstweilen eine unorthodoxe Sichtweise; sie wurde allerdings im September 2009 informell und ausdrücklich ohne Billigung - immerhin - auf der Website der Volkszeitung veröffentlicht. Sinngemäß kam die damalige Studiengruppe an der Beijing University zu einem poetischen Fazit, angelehnt an den "Regen in einer Frühlingsnacht" des Dichters Du Fu:

[Der gute Regen] treibt auf dem Wind, stiehlt sich bei Nacht herein, seine feinen Tropfen sind durchdringend, aber geräuschlos.

Mit Nyes Begriff von soft power scheint das viel zu tun zu haben. Aber ausgerechnet da, wo eine Zivilgesellschaft das erste und wichtigste Element sein müsste,weisen Camerons Ideen eine regierungsamtliche Fokussierung auf, die dem Konzept nur schaden kann. Sie scheint der orthodoxen Sicht der KP Chinas auf den Begriff von nationaler Identität und gesellschaftlicher Kohäsion näherzustehen als derjenigen der Beijinger Studiengruppe im Jahr 2009.

Mit Boris Pasternaks Doktor Schiwago gesprochen: das Pferd - die Gesellschaft bzw. ihre einzelnen Bürgerinnen und Bürger - soll am Ende glauben, es habe sich selbst zugeritten.

Was das allerdings mit einer freiheitlichen Demokratie zu tun hat, bleibt wohl einstweilen David Camerons Geheimnis. Eine gewählte Regierung täte gut daran, sich um ihr Kerngeschäft zu kümmern, anstatt um das "Bewusstsein" der Wähler.

Zwischen Gesetzen und Erlassen, öffentlicher Meinung, Industrie und Handel, und den Medien bestehen Wechselwirkungen. Diesen Wechselwirkungen möchte ich schrittweise und beitragsweise auf die Spur kommen, Was eignet sich besser dazu, als über die eigene Gesellschaft etwas hinauszugucken?

Vordergründig geht es in diesem Beitrag um Großbritannien und um Camerons Ideologiearbeit. Aber es wäre schwierig, das von weltweiten Trends zu trennen - sei es von deutscher "Leitkultur" oder von chinesischer "soft power".



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Geschrieben von

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