„Finde nur ich diese Todesanzeige merkwürdig?“, kommentierte unlängst die öko-linke Publizistin Jutta Ditfurth auf Facebook ein Inserat in der Tageszeitung Junge Welt vom 28. Dezember 2020, in dem zu lesen war: „Am 28. Dezember wäre Unteroffizier Peter Göring 80 Jahre alt geworden … Er wurde 1962 durch Westberliner Polizisten beim Versuch erschossen, einen Grenzdurchbruch zu verhindern … Die Tat blieb ungesühnt.“ Unterzeichner waren die üblichen Verdächtigen beziehungsweise deren Chemnitzer MfS-Selbsthilfegruppen: unter anderem ISOR und GBM. Aber auch Die Linke Chemnitz, die sich auf ihrer Internetseite umgehend um Schadensbegrenzung mühte: „Wir distanzieren uns von dieser Anzeige und ihrem Inhalt.“
Alarmstufe Rot! Ein Genosse hatte für alle unterschrieben. Der Vorstand, hieß es, werde ein Parteiausschlussverfahren debattieren. Soll doch der genannte Peter Göring, glaubt man dem Wikipedia-Eintrag, als Grenzer auf ein flüchtendes Kind geschossen haben. Westberliner Polizisten hätten deshalb das Feuer auf ihn eröffnet …
So, und jetzt holen wir alle erst mal ganz tief Luft und fragen uns, warum diese Steilvorlage weder von der Sachsen-CDU noch von der Bild genutzt wurde. Wo bleibt das rituelle Entsetzen? Immerhin ist in Strausberg nahe Berlin immer noch eine Straße nach Peter Göring benannt.
Wer im Stadtmuseum nachfragt, bekommt ein Heftchen in die Hand gedrückt: Leben und Tod des Soldaten Peter Göring. Im Zerrbild ideologischer Interessen. Zwei ehemalige Todfeinde sind die Autoren: Horst Klein, Oberst a.D. der NVA, und Hans W. Odenthal, Oberst a.D. der Bundeswehr. Und ausgerechnet der frühere Vorsitzende des CDU-Stadtverbandes, Udo Lungwitz, schrieb ein Geleitwort. Die Archivquellen sprechen dafür, dass Peter Göring an diesem Tag in eine Zufallssituation geriet, die von Westberliner Seite seinen gezielten Beschuss provozierte. Er selbst hatte keinen Schuss abgegeben, den flüchtenden Vierzehnjährigen hatte er von seinem Posten aus gar nicht sehen können.
Ein Westberliner Polizist hat Peter Göring am 23. Mai 1962 das Leben genommen, die DDR-Propaganda nahm ihm den Tod. Straßen und Schulen trugen seinen Namen. Er galt als Märtyrer im Kampf gegen die „Westberliner Faschisten“. Ebendiese Legende sollte nach der Wiedervereinigung 1990 jene vor Gericht schützen, die tatsächlich auf den vierzehnjährigen Wilfried Tews geschossen und ihn schwer verletzt hatten. Peter Göring aber ist ein Opfer des Kalten Krieges.
Kommentare 1
Es ist sehr zu begrüssen, dass Karsten Krampitz nachgewiesen hat, dass Peter Göring keinen Schuss abgegeben hat und den Flüchtenden nicht sehen konnte. Aber er hat den eigentlichen Grund für Jutta Ditfurths Tweet nicht erwähnt: einen Dresden-Opferkult, der sich in der jWGedenk-Anzeige in Satz über Peter Görings Jugend ausdrückt: "Er erlebte eine Kindheit in Angst und Schrecken, seine Heimatstadt Dresden wurde in Schutt und Asche gebombt". Wer einen solchen Satz unterschreibt, unterstellt , wäre Dresden nicht bombardiert worden, hätte Göring eine schöne Jugend im NS erlebt . Aber die Unterzeichner*innen können natürlich auf die nationalistische Dresden-Opfer-Kampagne der DDR im Kalten Krieg anknüpfen. Es gab in den 1990er Jahren eine intensive Debatte in der außerparlamentarischen Linken unter dem Motto "Keine Träne für Dresden", die an den unterzeichnenden Gruppen natürlich vorbeigegangen ist. mt wird.
Mit diesen Hintergrund kann man Jutta Ditfurths Kritik an der Anzeige besser einordnen, dass haben wohl einige, die auf den Tweer reagieren nicht verstanden.
Daher hier der Tweet mit der inkriminierten Anzeige: