Rodel-WM 1969: Die weltweit erste Kunsteisbahn am Königssee birgt tödliche Risiken
Zeitgeschichte Sport ist eine Waffe im Streit der Systeme. Da sind Wettbewerbsvorteile gefragt. Die versuchen sich die westdeutschen Ausrichter der Rodel-WM 1969 zu verschaffen – mit einer neuen Kunsteisbahn bei Berchtesgaden. Doch DDR-Frauen triumphieren
Anna-Maria Müller (Silber, DDR), Petra Tierlich (Gold, DDR) und Christa Schmuck (Bronze, BRD). Bei den Männern wurde der Österreicher Josef „Jos“ Feistmantl Rodel-Weltmeister 1969.
Foto: Werek/Imago Images
Kunst kommt von Können. Rennrodelsport ist eine Kunst. Derer, die krachend den eisglatten Kanal hinunterschießen. Und jener, die vorab still und möglichst unbeobachtet Bahnen und Schlitten bauen. Auch sie sind Künstler ihres Fachs.
Am bayerischen Königssee rodelt man in den 1960ern nicht mehr nur auf beschneiten Waldwegen, sondern auf einer von Menschenhand vereisten Bahn. Deren Kurven stehen gemauert übers Jahr. Ist der Winter da, werden bis zu zehntausend Blöcke Natureis aus nahen Seen herangekarrt und – hier kommt die Kunst ins Spiel – per Hand in die Kurven hinein- und bergab zusammengefügt, mit Schneematsch verschmolzen. So entsteht liebevoll die Berchtesgadener „Kunstbahn“, immer wieder neu. Die Steilwände in den Kur
in den Kurven, aber nicht nur dieser Bahn am Königssee, lassen hohe Geschwindigkeiten zu. Die Ausrüstung der Athleten hinkt dem nach. Ein Profischlitten sieht dem Freizeitspaßgerät, das jedes Kind kennt, immer noch ähnlich. Gelenkt wird die Fahrt per Seilzug in den Händen und mit den Füßen. Mit Sandpapier, Feile, Schraubenzieher werkeln die Profis bis kurz vorm Start an ihren „Kutschen“. Auch kommt in Mode, vor Abfahrt die Kufen zu erhitzen. Nach Olympia 1964 in Innsbruck ist das untersagt. Trotzdem. Rodeln wird immer waghalsiger. Wer nicht stürzt, fährt nicht am Limit. Bahn frei!Oder Bahn weg. Setzt nämlich Tauwetter ein, zerrinnt alles liebe Kunsthandwerk ohne Gnade. Im thüringischen Friedrichroda in der DDR müssen die Rennrodel-Weltmeisterschaften 1966 ausfallen, weil Föhn das Eis hat schmelzen lassen. Diesem allwinterlichen Risiko will man im Berchtesgadener Land entkommen, ein für alle Mal.Der Kältetechniker macht sich ans WerkWerner Deyle, Jahrgang 1932, gründet mit Ende 20 in Stuttgart ein Ingenieurbüro, das Kühlhäuser plant und als erste Sportanlage eine Eislaufbahn projektiert. Noch während diese 1965 in Inzell entsteht, fragt man ihn, ob sein Know-how auch für die Schräge tauge, ob er eine Rodel- und Bob-Piste am Königssee entwerfen könne. Klar, versichert der Kältetechniker kühn, kein Problem. Er orientiert sich an der vor Ort existierenden Bahn und ersinnt, gemeinsam mit einem Mathematiker und den Berchtesgadener Rodlern, die ihre sportlichen Ansprüche formulieren, eine „Kunsteisbahn“ für Rennschlitten und Bob. Es wird die erste sein, weltweit.Startblock, Kurven, Geraden, Ziel. Die Daten der Bahn: Gesamtlänge 1.114 Meter, 16 Kurven, Gefälle elf Prozent auf 117 Meter Höhenunterschied. Ammoniak, durch Rohre geleitet, kühlt Wasser zu Eis. Nebenher gibt es keine aufwendige Beschallung damals und klar, keine Videoprojektionen. 4,6 Millionen DM kostet die Sportstätte. Das meiste zahlt der Bund, ein Fünftel steuert Bayern bei. Pünktlich zu Weihnachten 1968 ist alles fertig. International präsentiert sich die Bahn erstmals zur Rodel-WM vom 31. Januar bis 2. Februar 1969. 20.000 Zuschauer kommen. Das Fernsehen berichtet. Und starke Athleten gehen an den Start. Der zweimalige Weltmeister Jerzy Wojnar, der eigentlich schon als Trainer arbeiten wollte; außer ihm, dem Titelfavoriten, reisen aus Polen vier Fahrerinnen und weitere acht Fahrer an. Aus Österreich kommt Josef „Jos“ Feistmantl, Olympiasieger von 1964. Mit diesen Größen misst sich die deutsche Elite. Die aus der BRD. Die aus der DDR. Zwei Mannschaften. Beide wissen: Sport ist Waffe. Waffe im Streit der Systeme. Zur Eiszeit des Kalten Kriegs.Zwanzig Jahre alt wird der ostdeutsche Staat im Oktober und gibt sich kämpferisch. „Signal DDR 20“ heißt eine Kampagne, die der sozialistischen Jugend aufträgt, „zur Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft beizutragen“. Jungpioniere sollen sich im „Manöver Schneeflocke“ vormilitärisch ertüchtigen. Am Berliner Fernsehturm, der weithin sichtbar von Kraft und Größe des kleinen Landes künden wird, baut man noch. Zugleich wird die DDR außerhalb des sozialistischen Blocks kaum irgendwo auf der Welt als souveräner Staat akzeptiert. Am wenigsten in Bonn. Dort regiert der westdeutsche Alleinvertretungsanspruch, kolonial übergriffig. Selbst die FDP stellt sich inzwischen gegen ihn. Die DDR nennt das Gebaren imperialistisch. An der Doktrin (noch gibt es keine Brandt’sche Ostpolitik) hält man jedoch eisern fest und wähnt sich unfehlbar. Es ist die Haltung von Besserverdienenden, von Leuten, die meinen, das Bessere verdient zu haben. Aus ihr erwächst eine Anmaßung, die bis heute fortwirkt. Wir sind die Sieger. Und ihr sollt nicht hochkommen!Umgesetzt wird die Alleinvertretung vor allem als Symbolpolitik. Ostdeutsche „Spalterflagge“ und „Zonenhymne“ sind auf dem Bundesgebiet verboten, sie stören die öffentliche Ordnung. Ein Gesetz gebietet „Abwehrmaßnahmen“. Entblößer inkriminierter Zeichen werden abgeführt. Fahnen heruntergerissen. Die Veranstalter der Rodel-WM am Königssee hissen deshalb überhaupt keine Flagge irgendeines Landes und spielen keiner Siegerin, keinem Sieger, egal woher, eine Hymne. Drei Jahre später in München werden die Flaggen aller Damen und Herren Länder wehen, Siegerhymnen erklingen. Das IOC will es so.Stanisław Paczka verunglückt tödlichDer ostdeutsche Leistungssport fixiert sich bereits jetzt auf das zukünftige Großereignis. Im April 1969 beschließt das Politbüro der SED, die BRD zu besiegen. Was die Wirtschaft nicht hinkriegt, der Sport soll es schaffen und sich vor der Bundesrepublik platzieren. So der Plan Walter Ulbrichts. Der wird tatsächlich gelingen und Erich Honecker (Ulbricht ist dann bereits entmachtet) nach Olympia als Gewinner mit Siegerinnen und Siegern posieren. Aber mehr noch; doch das kann kein führender Genosse propagieren, ja nicht einmal laut denken: Stets ist die DDR gezwungen, sich hinter dem „großen Bruder“ begeistert einzureihen und jedem Hinweis Moskaus als Befehl zu folgen, will man nicht enden wie im Jahr zuvor der Prager Frühling. Auf sportlichem Gebiet kann man den Sowjets ausnahmsweise aber mal die Stirn bieten und zeigen, wovon man insgeheim überzeugt ist. Dass nämlich nicht von der Sowjetunion, sondern von der DDR lernen, siegen lernen heißt.Zurück nach Bayern, zurück zur WM. Die neue Bahn am Königssee ist extrem anspruchsvoll. Sie ist auch ebener als alle Pisten, die die Aktiven bis dato kennen. Wo ist das laute Holpern geblieben, aus dem sie hörten, wie schnell sie sind? Der Kampf der Frauen – schnell gestaltet er sich als deutsch-deutsches Kräftemessen. Nach dem ersten Rennen liegen zwei DDR-Fahrerinnen vorn. Jetzt wird Wasser auf die Bahn gespritzt, um Schäden im Eis zu schließen. Der DDR-Verband unterstellt: um die Bahn noch schneller zu machen und den Westdeutschen einen noch größeren Heimvorteil zu verschaffen. Die Zeiten, die dann gefahren werden, erregen tatsächlich Schwindel. Wie Geschosse rasen die Schlitten abwärts Richtung Königssee. Und so geschieht eine Tragödie. Dem polnischen Einsitzer-Athleten Stanisław Paczka gerät in einer Kurve sein Schlitten außer Kontrolle. Es gibt keine abweisenden Überkragungen an den Kronen. Der 23-Jährige fliegt in hohem Bogen aus der Bahn, wird gegen einen Baum im angrenzenden Wald geschmettert und ist tot, noch bevor er ein Krankenhaus erreicht. Der Nachtlauf entfällt aus Pietät. Die polnische Mannschaft zieht sich aus dem Wettkampf zurück.Oberhof zieht nachSonntagvormittag hat sich Raureif aufs Eis gelegt, die Bahn ist etwas langsamer. DDR-Frauen machen das Rennen. Petra Tierlich wird Welt-, Anna-Maria Müller Vizeweltmeisterin vor der bundesdeutschen Favoritin Christa Schmuck. Gold im Herren-Einsitzer – Jerzy Wojnar ist nicht mehr dabei – gewinnt Jos Feistmantl. Bei der Siegerehrung überreicht der Österreicher seine Medaille an die polnische Mannschaftsleitung, seinen Weltmeistertitel widmet er den Angehörigen Stanisław Paczkas. Das wird von der DDR-Presse nicht kommuniziert.Das Kräftemessen geht weiter. Die zweite künstlich vereisbare Rennrodelbahn der Welt wird im thüringischen Oberhof gebaut. Die Strecke am Königssee kennend, will man vom Wissen, das „drüben“ gesammelt wurde, profitieren. Man sucht Kontakt, und es kommt in der Tat dazu, dass die Stuttgarter Firma Deyle dem ostdeutschen Prestigeprojekt zuarbeitet. Oberhof wird konzipiert mit Erfahrungen der Berchtesgadener Bahn. Im Herbst 1971 – rechtzeitig vor Olympia in Sapporo – beginnt das Training.Uwe Deyle, Jahrgang 1960, der das Unternehmen seines Vaters fortführt, ist zurzeit unter anderem damit befasst, die Königssee-Bahn, die sein Vater schuf, wieder aufzubauen, „die Geburtsstätte des Schlittensports, den wir heute kennen“, wie er sagt. Ein Unwetter hat die Strecke 2021 teilweise zerstört. Es stehen 53,5 Millionen Euro zur Verfügung. Wenn der Eiskanal wieder in Betrieb geht, sei er auf der Höhe der Zeit, meint Deyle. „Eine Bahn, die seit 55 Jahren genutzt wird von Anfängern und von Weltmeistern und für jeden die richtige Portion Schwierigkeit mit sich bringt. Es gibt nicht viele Sportstätten, die über so eine lange Zeit Bestand haben und immer noch aktuell sind.“
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.