Mein Leben zieht auf Millimeterpapier vorbei

Schule Unsere Kolumnistin entdeckt ihre Liebe für das „einseitige mm-Schema in rotbraunem Netzdruck“
Ausgabe 36/2019
Wer will aus diesem Muster nicht sofort einen Rock schneidern?
Wer will aus diesem Muster nicht sofort einen Rock schneidern?

Bild: der Freitag

Das Kind arbeitet in „Gewi“, also im Fach Erdkunde, welches für meinen Geschmack heute ziemlich überkandidelt „Gesellschaftswissenschaften“ genannt wird, gerade mit dem Millimeterpapier, das ich grafisch so mag. Für nächste Stunde muss er in das „einseitige mm-Schema in rotbraunem Netzdruck“ (so die hübsche Definition von einem bei Amazon erhältlichen Papier) jeweils ein Klimadiagramm für vier Städte erstellen. Hamburg liegt 16 Meter (m) über dem Meeresspiegel, Aachen 266 Meter (m), Paris 40 Meter (m). Stimmt das? Ich habe die Werte beim Kind abgeschrieben. Die Abkürzung „m“ für Meter und in Klammern gesetzt, scheint mir grafisch gelungen. Ich denke, vielleicht ist Albert Einsteins e = mc² auch deshalb so faszinierend, weil lettrisch so emblematisch wie enigmatisch.

Meeresspiegel wiederum klingt so poetisch wie aus Zeiten, als „Gewi“ noch Erdkunde war und ich dafür öfter mit dem von meinen Geschwistern geerbten Diercke Weltatlas hantierte. Ich denke nicht, dass er noch zu Hause steht. Meine Mutter war immer eine gnadenlose Wegschmeißerin von allem, was vorbei war. Antiquarisch finde ich den Diercke online, erkenne das braune Design aus dem Jahr 1971, goldene Lettern, stoffliche Beschichtung, ein schwerer Brocken. Immer wieder hatte ich etwas Interessantes darin entdeckt, herrlich die Art, wie im Diercke Gebirge dargestellt wurden. Die Welt war kleinteilig. Im Diercke war sie kartografiert, schon seit 1875, interessanterweise wurde er bald in allen Schulformen verwendet. Meine Geschwister, alle drei Hauptschüler, benutzten ihn, er gehörte zur Grundausstattung wie ein Zirkel von Rotring, den ja auch Architekten verwenden.

Meine Geschwister besuchten die Hauptschule zu einer Zeit, als sie noch als eine solide Schulform galt für Kinder, deren Eltern „intuitiv“ nichts von „Überakademisierung“ hielten und als von Überakademisierung noch keiner redetete. Sie dachten einfach, dass ihre Kinder als Schuster am besten bei den Leisten blieben, und ganz falsch lagen sie ja nicht.

Ich mag Millimeterpapier, ich hätte gerne einen Rock mit einem solchen Muster, er würde nur ein, zwei Millimeter übers Knie reichen, hätte vorne zwei quadratische Schürzentaschen, in Rot.

Mit einem solchen Rock wär ich ein schönes Klimadiagramm. Wetter ist, was kommt und geht; Klima das, was bleibt (mehr oder weniger: siehe Klimawandel). Die Mittelwerte werden aus jeweils 30 Jahren zu einem neuen Mittelwert errechnet. Die Daten der Klimastationen findet das Kind auf dem vom Lehrer kopierten Zettel. Nicht ganz so schön gerät so das Arbeiten, kein Vergleich zum Diercke.

Das Wetter in Aachen stelle ich mir überdurchschnittlich durchschnittlich vor. Man hört nichts vom Aachener Wetter, auch sonst nichts aus Aachen, außer dass dort ein Preis für witzige Politiker verliehen wird. Der diesjährige Orden „Wider den tierischen Ernst“ wurde an die Landwirtschaftsministerin verliehen. „Was Julia Klöckner macht, das macht sie mit Herz und Verstand.“ Vorjahressieger Winfried Kretschmann hielt die Preisrede. „Ich bin kein Romeo fürwahr, doch du bist eine Julia.“ Es ist die Art von Humor, die weggespült wird, wenn die Meeresspiegel steigen werden, hoffe ich.

Am liebsten würde ich die Hausaufgabe für Gewi auf Millimeterpapier auch noch erledigen. Stoisch die Achsen einzeichnen und die Punkte verbinden. Dafür sollten wir uns doch mal einen ordentlichen Atlas besorgen.

Katharina Schmitz schreibt im Freitag als Die Helikoptermutter über die Unzulänglichkeiten des Familienlebens

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Geschrieben von

Katharina Schmitz

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Literatur“

Katharina Schmitz studierte Neuere Geschichte, Osteuropäische Geschichte, Politikwissenschaften, Vergleichende Literaturwissenschaften und kurz auch Germanistik und Romanistik in Bonn. Sie volontierte beim Kölner Drittsendeanbieter center tv und arbeitete hier für diverse TV-Politikformate. Es folgte ein Abstecher in die politische Kommunikation und in eine Berliner Unternehmensberatung als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Ab 2010 arbeitete sie als freie Autorin für Zeit Online, Brigitte, Berliner Zeitung und den Freitag. Ihre Kolumne „Die Helikoptermutter“ erschien bis 2019 monatlich beim Freitag. Seit 2017 ist sie hier feste Kulturredakteurin mit Schwerpunkt Literatur und Gesellschaft.

Katharina Schmitz

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