Gebrochene Herzen

Generationenkonflikt Am Brexit sind allein die Alten schuld, heißt es jetzt. Dabei haben viele Jüngere die Wahl schlicht geschwänzt
Ausgabe 26/2016

Nun ist es also passiert: Das Brexit-Referendum ist durch. Seit Wochen, nein, Monaten haben Menschen aus ganz Europa sorgenvoll zur Insel geblickt, haben beobachtet, wie die Kampagnen der EU-Befürworter (Bremainers) und EU-Gegner (Brexiteers) immer aufgeheizter, in den Methoden immer unsauberer und, was die Parolen der Brexiteers angeht, auch immer nationalistischer wurden. Die einen wollen gehen, weil sie sich eine Zukunft ersehnen, in der Großbritannien zu alter Macht zurück gelangen werde, da wird der Ruhm eines früheren Seefahrer-Imperiums beschworen. Die anderen aber wollen bleiben, und das vor allem auch, weil sie Angst vor dem Niedergang der eigenen Wirtschaft haben, die – das lässt sich nicht leugnen – eng mit der gesamteuropäischen verwoben ist.

Vernetzung allein ...

Die ersten Umfragen nach der Brexit-Entscheidung zeigten: An welches der beiden Szenarien geglaubt wurde, hing stark mit dem Alter zusammen. 64 Prozent der jungen Wähler waren fürs Dabeibleiben. Manche Umfragen zählen auch diejenigen dazu, die noch nicht alt genug für die Abstimmung waren, und kommen sogar auf 75 Prozent. All jene wurden vor allem von über 65-Jährigen überstimmt. Die Alten, die nur noch ein bis zwei Jahrzehnte zu leben haben, diktieren die Bedingungen, mit denen die Jungen noch ein halbes Jahrhundert lang zurechtkommen müssen. So war es jetzt immer wieder zu lesen.

Aber dieser generation gap ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist, dass die Wahlbeteiligung bei den unter 25-Jährigen nur bei 36 Prozent lag. Je älter die Wahlberechtigten waren, desto eher haben sie sich am Referendum beteiligt. Ja, die „bösen“ über 65-Jährigen haben sich einfach doppelt so stark zum Urnengang motivieren lassen. Dass Großbritannien für den Brexit gestimmt hat, liegt also nicht nur an einer Spaltung in Jung und Alt, in Nationalisten und Kosmopoliten – sondern auch daran, dass sich die Gruppe der jungen Wahlberechtigten deutlich in Wähler und Nichtwähler aufspaltet.

Wen wir kennen: die 75 Prozent. Der britische Guardian hat für sie eigens einen Blog im Netz eingerichtet: the75percent.tumblr.com. Hier sind Statements derjenigen zu lesen, die sich jetzt um ihre Zukunft gebracht fühlen. Sie heißen Kayleigh, Sophie und Cerian, sind 17, 19 oder 22 Jahre alt und schreiben Statements wie: „Die älteren Generationen, die noch freie Bildung, solide Renten und Bewegungsfreiheit genießen konnten, haben jetzt so abgestimmt, dass die Zukunft meiner Generation bedroht ist.“ Oder: „Das Herumreisen wird so viel schwieriger werden.“ Oder auch: „Ich halte es nicht aus, mitzuerleben, wie mein Land sich jetzt dem Hass zuwendet und dass niemand in meinem Alter eine demokratische Möglichkeit hat, etwas dagegen zu tun.“

Sie sind enttäuscht, sie haben Angst, sie fühlen sich verraten und übergangen. Sie geben sich politisch und gebildet. Weltoffen und vernetzt. Reflektiert und besorgt. Besonders im Netz. Da zeigen sie Youtube-Videos, in denen sie über ihr Unglück klagen. Sie posten gebrochene Herzchen-Emojis auf Twitter. Sie kommentieren die Lage auf Facebook. Das ist jetzt alles sichtbar. Aber wo waren diese Leute, während die Kampagnen durch ihr Land zogen? Wo waren die jüngeren Wähler, als es darum ging, einen gültigen Stimmzettel abzugeben? Erst jetzt, da das Referendum gelaufen ist, lesen wir von ihnen in großer Zahl. Erst jetzt, wo der Gegner einen statistischen Namen erhalten hat – „die Alten“ –, laufen sie Sturm. Dabei nutzen doch gut 90 Prozent der 16- bis 21-jährigen Briten ein Smartphone. Warum konnten die Alten sich mit ihrem rückwärtsgewandten Willen dennoch so viel schlagkräftiger mobilisieren als all die jungen Vernetzten?

Vielleicht ist die viel zu spät kommende Kampagne der jüngeren Generationen ein Symptom von etwas Größerem – von einem Politikverständnis, das stets nur reagiert. Es handelt sich um ein leider wohl vergebliches Entsetzen einer Gruppe von Menschen, die so lange Katzenbildchen und animierte GIFs miteinander teilten, bis wirklich etwas Schlimmes passierte. Etwas, über das sie sich dann wieder aufregen können, im großen bunten Internet, mit entsprechenden Hashtags und Sinnsprüchen. Diese Generation wird auch Erasmus-Generation genannt, nach dem Auslandsstudienprogramm der EU. Sie reist durch die Welt. Sie chattet mit der Welt. Zumindest ein Teil von ihnen. Der andere Teil, die sogenannten Bildungsverlierer, ist davon bekanntlich abgehängt.

In Großbritannien klafft die sozioökonomische Schere dank der jahrzehntelangen neoliberalen Politik der Labour- und Tory-Regierungen deutlich auseinander. Jeder fünfte britische Teenager verlässt mit 16 die Schule. Die OECD bescheinigt den Briten einen schlechteren Bildungsstandard als vielen der Länder, vor deren Migranten sich die Brexiteers fürchten, etwa Slowenien, Tschechien oder Polen. Aber zu sagen, hier allein liege der Hund begraben, wäre zu einfach gedacht. Denn es gibt noch eine andere auffällige Gruppe unter den Jungen: die stolzen Nichtwähler.

Hierzulande ist die Journalistin und Buchautorin Andrea Hanna Hünniger die lauteste Vertreterin dieser Gruppe. Vor der Bundestagswahl 2013 hielt sie in Talkshows ihren Kopf für eine Haltung in die Kamera, die im Nichtwählen die einzig wahre Entscheidung sieht. Das Frappierende ist: Da war eine, die politisch zu denken schien, die sich jedenfalls zu Wort meldete. Aber eben mit der Botschaft: Sie sei Nichtwählerin, weil ihr die Politik allgemein gegen den Strich gehe, weil sie ihre Ideale darin verraten sehe. Seit sie politisch denken könne, habe sie keine positiven Erfahrungen mit Politik und Demokratie gemacht, sagte Hünniger bei Günther Jauch. Das Wahlergebnis 2013 war dann ähnlich frappierend: 30 Prozent Nichtwähler in der Gesamtbevölkerung – 62 Prozent unter den Jungen. Das ähnelt markant dem jetzigen britischen Ergebnis. Und so ist die Hünniger-Attitüde, neben der Bildungsschere, ein weiterer Schlüssel, um das Brexit-Ergebnis zu verstehen.

Die junge Generation ist offensichtlich eine, die berührt werden will. Dass eine Kampagne, die vor allem von Wirtschaftsthemen begleitet wird, wie der Bremain-Wahlkampf, bei jungen Leuten nicht verfängt, ist eigentlich kein Wunder. Selbst Ältere haben oft Schwierigkeiten, Zoll- und Steuergesetze wirklich zu verstehen. Wo war die Pro-EU-Kampagne, die mit dem Lebensgefühl der Jungen zu tun hat? All das kommt erst im Nachgang zur Sprache. Die Brexiteers hingegen schufen einen Zukunftsentwurf, mit dem sich die alte Generation sehr gut identifizieren konnte, denn für ihn stand die Vergangenheit Modell: das britische Empire, die starke Seemacht, die Anrufung der „eigensinnigen Identität“. Die Werber für den Brexit agierten im Tonfall der Emanzipation und Selbstbestimmung, und diejenigen, die ihnen folgten, waren voller Optimismus, als sie sich selbst sagten: Wir brauchen die anderen doch gar nicht – wir brauchen nur uns!

... bringt leider wenig

So geizten die Brexiteers nicht mit Aussagen, die der US-Philosoph Harry G. Frankfurt als „Bullshit“ klassifiziert hätte. Leider gibt es im Deutschen keine Entsprechung zu diesem Begriff. Frankfurts Definition beinhaltet die komplette Gleichgültigkeit des Bullshitters gegenüber Fakten. Mit der Lüge ist das nicht gleichzusetzen, denn die Lüge beinhaltet immer ein Wissen um die Wahrheit – während der Bullshit sich von Impulsen und Launen nährt, gewürzt mit einer großen Dosis Fantasie. Diese rhetorische Technik spielt im Internetzeitalter für die Politik eine wachsende Rolle, das kann man auch am Wahlkampf von Donald Trump sehen. Bullshit verbreitet sich im Netz wie ein Lauffeuer, niemand kann es schaffen, allen Bullshit, der dort kursiert, mit Fakten zu widerlegen. Er ist eine neue Waffe, eine neue politische Kampftechnik, und mit ihr klarzukommen, wird unsere Gesellschaften noch viele Jahrzehnte beschäftigen.

Nach dieser Brexit-Abstimmung ist es an der Zeit, die drei großen Baustellen der Demokratie anzugehen. Erstens: Die Bildungsmisere, die seit den 90ern eng mit der neoliberalen Politik verwoben ist, muss behoben werden. Zweitens: Eine (europäische) Vision von lebenswerter Zukunft muss ausformuliert werden, und zwar so, dass junge Menschen Lust bekommen, ihre demokratischen Rechte stärker zu nutzen und die Zukunft mitzugestalten. Und drittens: Das populistische Bullshitting, das durch das Netz und dessen reflexhafte Dynamiken ernorm an Bedeutung gewonnen hat, muss bekämpft werden. Und das wird vielleicht am allerschwersten.

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Geschrieben von

Katrin Rönicke

ich bin... einfach so; ich bin nicht... so einfach

Katrin Rönicke

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