Fabio Arias betritt erwartungsvoll den größten Sitzungssaal des kolumbianischen Gewerkschaftsdachverbands CUT (Central Unitaria de Trabajadores de Colombia) und kann eben noch ein enttäuschtes Zucken der Mundwinkel unterdrücken. Gerade eine Handvoll Journalisten sind Ende Juni erschienen, um seine neue Gewerkschaftsspitze zu erleben. Das passt zum derzeitigen Klima in Kolumbien, wo der linken Regierung von Präsident Gustavo Petro und der CUT, die sie unterstützt, eine steife Brise ins Gesicht bläst. Daraus macht Fabio Arias, ein hagerer, hoch aufgeschossener Mann, der seine Mitstreiter allesamt locker überragt, kein Geheimnis: „Wir übernehmen die Leitung unseres Dachverbands in einer historischen Situation, denn wir stehen an einem Wendepu
Kolumbien: Frischzellenkur und Frustration
Reportage Wer in den 1980er Jahren überleben wollte, vermied es, sich als Arbeiter für seine Interessen und Rechte zu organisieren. Der innere Terror von damals scheint überwunden, ist aber noch nicht vollends besiegt

Demonstrant in Cali 2021. Gegen Angriffe der Polizei gut gerüstet zu sein, war jahrelang unverzichtbar
Foto: Juan Pablo Pino/AFP/Getty Images
epunkt. Die Reform der Arbeitsgesetzgebung liegt auf dem Tisch. Doch die Unternehmen laufen dagegen Sturm.“ Das manifestiere sich im Streik von Abgeordneten, die der ersten von vier nötigen Lesungen des Gesetzes ferngeblieben seien und so ihre Pflicht als gewählte Volksvertreter verletzt hätten, urteilt der gelernte Chemieingenieur.„Es geht hier darum, grundlegende Arbeitsrechte wiederherzustellen, die auch von der Internationalen Arbeitsorganisation ILO unterstützt werden.“ Arias legt den Finger in die Wunde. „Der Unternehmenssektor spart mit jedem Feiertag, mit jeder Überstunde in Kolumbien viel Geld ein.“ In der Tat belegen Hochrechnungen von Portofolio, einer führenden kolumbianischen Finanzzeitschrift, dass die größten Unternehmen des Landes wegen einer neoliberalen Modifizierung der Arbeitsgesetze 2022 mehr als 177 Billionen Peso (umgerechnet 39 Milliarden Euro) zusätzlich verdient haben. „Das sind etwa 40 Prozent der Unternehmensgewinne, die eigentlich den Arbeitnehmern zustehen“, meint Arias. Nachtzuschläge sollen beispielsweise dank einer Reform der Arbeitsgesetze wieder gezahlt werden. Die Kosten fallen mit umgerechnet 726 Millionen Euro moderat aus, sodass die Haltung vieler Firmen, zu denen auch internationale wie die deutsche DHL-Gruppe zählen, nur bedingt nachzuvollziehen sei, betont Arias gemeinsam mit seinem Vorgänger Francisco Maltés im Anschluss an die Pressekonferenz.„Der Unternehmenssektor ist in Panik geraten, denn die Arbeitsreform stellt grundlegende Arbeitsrechte wieder her. So werde das in Kolumbien weitverbreitete Outsourcing von Arbeitskräften in Leiharbeitsagenturen, in denen die Arbeiter sich nicht gewerkschaftlich organisieren dürfen, mit der Gesetzesvorlage aufgehoben – in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation, so Maltés. Das könne in diesem Land, wo rund zwölf Millionen Arbeitnehmer in dubiosen Leiharbeitsverhältnissen stecken, gravierende Folgen haben. Die CUT und die in Medellín ansässige Gewerkschaftsschule (ENS) kalkulieren, dass binnen eines Jahres rund vier Millionen Jobs in reguläre Arbeitsverhältnisse mit den entsprechenden Sozialabgaben umgewandelt werden müssten. Das sei, so Maltés, ein wesentlicher Grund für den massiven Widerstand aus dem Unternehmerlager gegen die Reformen. Für die Gewerkschaften dagegen sind die essenziell. Sie befinden sich bereits seit zwei, drei Jahren im Aufwind, haben an Mobilisierungsfähigkeit gewonnen, wie nicht zuletzt der landesweite Ausstand, der „Paro Nacional“, zwischen Ende April und Mitte Juli 2021 zeigte. Da ging ein großer Teil der Bevölkerung gegen einen autoritär auftretenden und das Ende 2016 unterzeichnete Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla nicht implementierenden Präsidenten Iván Duque auf die Straße – organisiert vor allem von der CUT wie den Nachbarschaftskomitees von unten.Mitte der 1980er war Kolumbien ein gefährlicher Ort für organisierte ArbeiterSo konnte sich die CUT wieder mitten in der kolumbianischen Gesellschaft etablieren. Sie hat an Glaubwürdigkeit gewonnen und verzeichnet wieder einen verhaltenen Zulauf. Rund 600.000 organisierte Arbeitnehmer – davon mindestens ein Drittel Lehrer – vereine die CUT gegenwärtig, resümiert Arias. Wie Maltés hofft er auf markante Zuwächse in den nächsten Jahren. Dafür sei es jedoch extrem wichtig, die Reform der Arbeitsgesetzgebung durchzubringen. Schon wenn nur jeder vierte Arbeitnehmer, der in ein formales Anstellungsverhältnis wechselt, in die CUT oder einen der beiden konkurrierenden, aber deutlich kleineren Dachverbände eintreten sollte, würde sich der gewerkschaftliche Organisationsgrad nahezu verdoppeln: von 4,5 auf gut neun Prozent. Der CUT-Vorsitzende Fabio Arias träumt allerdings von Größenordnungen wie zu Beginn der 1980er Jahre, als in Kolumbien noch 16 bis 18 Prozent der Arbeitnehmer organisiert waren.Damals freilich brach eine Zeit an, in der sich der innere Terror auch gegen die Gewerkschaften zu richten begann. Laut der Gewerkschaftsschule (ENS) in Medellín wurden seit Mitte der 1980er Jahre mehr als 3.800 organisierte Frauen und Männer ermordet. Kolumbien wurde weltweit zu einem der gefährlichsten Orte für Arbeiterinnen und Arbeiter, die ihren Interessen durch eine Gewerkschaft Nachdruck verleihen wollten. Bis heute zählt Kolumbien mit Bangladesch, Brasilien, Ägypten, der Türkei, den Philippinen und Guatemala zu den zehn Staaten, in denen Gewerkschaften besser meidet, wer überleben will. 13 Morde, sechs Mordversuche und 99 Morddrohungen hat es allein 2022 gegeben. Einer, der 2003 vor diesen Verhältnissen nach Spanien ins Exil fliehen musste, ist Estebán Barboza, langjähriger Chef der Transportarbeiter-Gewerkschaft SNTT. 2006 war der ehemalige Taxifahrer aus Cartagena de Indias, Kolumbiens touristischem Drehkreuz, wieder zurück und dabei, als die CUT sich neue Strukturen gab. Weg von der klassischen Betriebs- hin zur Rahmengewerkschaft, die in einem Wirtschaftssektor verankert ist, so die Devise. Das ergab Sinn, findet Barboza: „Wir wollten nicht zusehen, wie unsere Gewerkschaftsbewegung in immer kleinere Einheiten zerfällt. Das Konzept, sich auf 18 große Branchen zu konzentrieren, war die richtige Antwort“, meint der hagere Mann mit den graumelierten Locken. Er ist am Umbau direkt beteiligt, hat in den zurückliegenden Jahren die Gewerkschaft der Logistikarbeiter neu aufgebaut. „Das Gros der Beschäftigten im Transport arbeitet informell – an der Kaimauer im Hafen, beim Logistiker oder als Bus-, Taxi- oder Truckfahrer. Unser Ziel ist es, aus solchen Jobs reguläre Arbeitsverhältnisse zu machen“, nennt Estebán Barboza ein hochgestecktes Ziel. 1,46 Millionen Jobs gibt es schätzungsweise in dem Sektor, etwas mehr als 5.000 Mitglieder hat die SNTT – Tendenz steigend.Doch stehen den Erfolgen in den Häfen, wo es mit großen Reedereien wie der dänischen „Maersk Line“ gute Beziehungen gibt, äußerst konservative Transportunternehmen gegenüber, nicht zuletzt ein gewerkschaftsfeindlich agierender deutscher Logistiker. Zumindest ist das die Meinung von Alexander Escobar, der lange für DHL in der kolumbianischen Metropole Cali gearbeitet hat und durch einen Kollegen von einer Zeitarbeitsfirma ersetzt wurde. Dagegen klagte die Gewerkschaft SNTT und konnte erwirken, dass der Lohn von Escobar derzeit weitergezahlt wird. Das Ganze ist kein Einzelfall. „Aus unserer Sicht verfolgt das Management von DHL eine knallharte Strategie des Outsourcings – alle direkten Arbeitsverträge werden mit dem Verweis auf interne Umstrukturierung gekündigt. Das scheint der gewerkschaftsfeindliche Kurs der kolumbianischen DHL-Manager zu sein“, meint Barboza. Für sein Land ist das durchaus typisch. Genau deshalb hoffen die Gewerkschaftsanwälte im Fall von Alexander Escobar, dem Vater zweier kleiner Kinder, dem Einhalt gebieten zu können. Die seit Jahren schwelenden Konflikte zwischen DHL und SNTT haben immer wieder dazu geführt, dass sich die Internationale Transportarbeiterföderation ITF eingeschaltet hat. Was in Kolumbien geschieht, ist ebenso in Panama und Chile üblich.14 Jahre hat Alexander Escobar als Vorarbeiter eines kleinen Teams bei DHL in Cali gearbeitet – seit Monaten ist er nun freigestellt und würde ohne SNTT-Mitgliedschaft ohne Lohnfortzahlung auf der Straße stehen. Vor vier Jahren ist er in eine Gewerkschaft eingetreten, die kontinuierlich wächst, wenn auch für den Geschmack von Estebán Barboza zu langsam. „Mit der neuen Regierung von Gustavo Petro und Vizepräsidentin Francia Márquez haben wir wirklich eine Chance zu wachsen – dies ist unverzichtbar, um die Reformen in der Arbeitsgesetzgebung durchzusetzen. Dafür werden wir auch auf die Straße gehen“, so Barboza. Er vertritt die CUT-Position, damit spätestens am 20. Juli zu beginnen, wenn das Parlament neu zusammentritt. Man werde das friedlich und kreativ handhaben, hat der CUT-Vorsitzende Fabio Arias angekündigt.