Alle vier Jahre passiert es. Irgendjemand von einer zumeist linken „dritten Partei“ kandidiert bei der US-Präsidentenwahl gegen die republikanischen und demokratischen Anwärter. Gewöhnlich sich selbst oder das linke Umfeld überschätzend, geschieht das nach der Maxime: Das Zweiparteiensystem blockiert den Fortschritt. Anfang Juni hat sich nun die jüngste Inkarnation eines „Dritten“ vorgestellt, der Fürsprecher der Arbeiter, LGBT, der Verarmten und kleinen Leute sein will, die das Zeug hätten zu einer mächtigen Bewegung.
Gemeint ist der 70-jährige Cornel West, Philosoph mit Dietrich-Bonhoeffer-Professur am New Yorker Union Theological Seminary. Ein Virtuose des gesprochenen Wortes, der aus der Tradition der schwarzen Be
hwarzen Befreiungstheologie kommt. Ein provokanter Intellektueller, der die politische Debatte aufwirbeln kann. In einem Freitag-Interview vor Jahren nannte er Barack Obama „das schwarze, lächelnde Gesicht des US-Imperiums“.„Mit dem geliebten Bruder Bernie Sanders“Er sei ein „Jazz-Mann in der Welt der Politik“, sagt West, kandidiere im Namen von Wahrheit und Gerechtigkeit und tue das mit der People’s Party. Die Kleinstpartei entstand aus Versprengten des Bernie-Sanders-Universums, die sich nicht damit abfinden wollen, dass ihr Hoffnungsträger im Namen des Machbaren Joe Biden unterstützt. 2016 war West auf Achse für den Bewerber Sanders, den er als „Langstreckenläufer mit Integrität im Kampf für Gerechtigkeit“ lobte. Wests scharfe, poetische Ansprachen für den demokratischen Sozialismus und gegen Hillary Clinton begeisterten. Die Elite fürchte Sanders, sagte West auch 2020, als sein Favorit im Vorwahlkampf gegen Biden antrat und die Frage in der Luft lag, wer der beste Kandidat gegen Donald Trump sei. West erklärte, seit 50 Jahren ein Freiheitskämpfer und in Solidarität verbunden zu sein „mit dem geliebten Bruder Bernie Sanders“. Beim Kampf gegen Trump gehe es „um die Zukunft der Demokratie“.Mittlerweile hat sich Sanders – mit Blick auf den erneuten Trump-Antritt – für Bidens Wiederwahl 2024 ausgesprochen. West nicht. Die Demokraten seien selbst schuld, wenn „sie mittelmäßige Waschlappen“ (milquetoast) aufstellten, die nichts anzubieten hätten gegen Militarismus und Armut, so Cornel West in einem Podcast des Kommentators Tavis Smiley. Jedoch überrascht, dass er sich ausgerechnet auf die People’s Party einlässt, die über kein Netzwerk für Wahlhelfer verfügt. In Democracy Now, dem Nachrichtenkanal für eine progressive Gegenöffentlichkeit, wich West Fragen nach der People’s Party aus, die nicht einmal im kleinen linken Amerika eine Größe ist. Viele Leute würden ihn fragen, „was ist das überhaupt für eine Organisation? Was hält die zusammen? Wir werden sehen.“Als Ralph Nader Al Gore verhinderteDonald Trumps frühere Medienfachfrau Kellyanne Conway hat bei Fox News darüber gesprochen, dass der „superkluge West“ eine Gefahr sei für Biden. Ein „dritter“ Kandidat könne entscheidend sein beim Wahlausgang. 1980 habe Senator Ted Kennedy als Vorwahlrivale dem amtierenden Präsidenten Jimmy Carter schwer geschadet. Und dann ist da das viel diskutierte Beispiel Ralph Nader im Jahr 2000, den Cornel West ebenfalls unterstützte. Im entscheidenden Vorwahlstaat Florida erhielt George W. Bush laut amtlicher Zählung 537 Stimmen mehr als der Demokrat Al Gore, wurde Präsident und Feldherr des Irak-Krieges. Der für die Grüne Partei antretende Nader kam in Florida auf fast 100.000 Stimmen.Wenn Demokraten keinen Kandidaten einer dritten Partei wollten, konterte West, müssten sie „arme und arbeitende Menschen ins Zentrum ihrer Vision rücken“. Biden sei als Übergangspräsident gewählt worden, aber das reiche nicht aus. „Wenn Neofaschismus die einzige Alternative zum Neoliberalismus ist, erlebt man eine Katastrophe und wird früher oder später beim Faschismus landen.“Kandidatur mit Jazz im HintergrundAuf der People’s-Party-Website prangt ein Foto von ein paar Dutzend Protestierenden mit dem Plakat „Stop Funding Ukraine War!“ (Stopp der Finanzierung des Ukraine-Krieges). Cornel West hat Russlands Angriff auf die Ukraine als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt, doch wird von seiner Kampagne gefordert, Militärhilfen an das Ausland zu streichen, alle Militärs nach Hause zu bringen und die NATO aufzulösen. In den USA will West Lobbyarbeit von Unternehmen verbieten, stattdessen den Gewerkschaften beistehen, eine umfassende Krankenversicherung einführen und große Tech-Konzerne zerschlagen. Ansonsten ist noch unklar, wie er sich seinen Wahlkampf konkret vorstellt. Schließlich hat der wenig mit den Talkshows zu tun, zu denen West seit Jahren geladen wird.Ein großes Ego reicht nicht. Man muss in möglichst vielen Staaten auf den Stimmzetteln stehen – ein Problem für kleine Parteien. Die beiden großen Parteien wollten nicht die Wahrheit über die Ukraine, die Wall Street und das Pentagon sagen, so West in seinem Ankündigungsvideo mit Jazz im Hintergrund. Über seine Erfolgschancen urteilt er: „Wir werden sehen. Manche von uns werden kämpfend und mit Schwung zu Boden gehen – mit Stil und einem Lächeln.“ Und dem Rest könnte das Lächeln vergehen.