Ein Hit ist ein Hit

Musik Eigentlich ist Gaza von der Hamas kontrolliert und für Israelis nicht zugänglich. Der Sänger Mike Sharif will dort trotzdem auf einer Hochzeit auftreten
Ausgabe 46/2021
Nahe Hebron verlangte das Publikum nach den Songs in seiner Muttersprache
Nahe Hebron verlangte das Publikum nach den Songs in seiner Muttersprache

Foto: Pacific Press Agency/Imago

Netta Barzilai, damals 25 Jahre alt, verbeugte sich 2018 vor ihrem Publikum so: „Danke, dass ihr den Unterschied gewählt habt; danke, dass ihr Diversität feiert“. Es war der vierte Gewinn des Eurovision Songcontest für Israel, das lange Zeit gar nicht mitmachen durfte. 1973 erhielt der kleine Staat im Nahen Osten als erstes nicht-europäisches Land eine Zulassung zu dem internationalen Gesangswettbewerb und war seitdem oft erfolgreich dabei.

Nicht nur war ihr Gewinnersong Toy ein herrlich irres und lautmalerisches Feuerwerk, auch ihr Auftritt unterschied sich von üblichen Bühnenschauspielen – Netta selbst beschrieb sich einst als „fettes Mädchen“ und versteckt sich weder akustisch noch physisch. Heute ist sie ein Star in Israel und sitzt in der Jury des dortigen Ablegers der Casting-Show X Factor, die am 30. Oktober anlief und deren Gewinner*in wiederum zum kommenden ESC geschickt werden soll.

Im Tel Aviv des Jahres 2021 finden sich immer noch Devotionalien vergangener ESC-Wettbewerbe, vereinzelte Graffiti, hin und wieder ein ausgewaschenes T-Shirt. Die Israelis lieben den Songcontest und die große Geste, die von dem traditionell unpolitischen Event ausgeht. Aber nichts ist unpolitisch in einem Land, in dem über so gut wie allem ein Konflikt schwebt.

Als der Wettbewerb 2019 in Israel stattfand, rief die Initiative BDS zum Boykott auf. Die Situation der Menschen in den palästinensischen Gebieten solle nicht durch einen hübschen Gesangswettbewerb „reingewaschen“ werden. Der Kampagne schlossen sich zahlreiche Künstler*innen und Parteien an, unter anderem die australischen Grünen und die schwedischen Linken. ESC-Gewinnerin Netta sprach sich schon damals dagegen aus. Sie betonte den verbindenden Charakter der Veranstaltung und sagte der BBC: „Wenn du das Licht boykottierst, verbreitest du Dunkelheit.“

Dass die Verbindung klappen, das Licht der Musik ins Dunkel vordringen kann, beweist in Israel derzeit ein anderer, der mit dem ESC bislang nichts am Hut hat. Für westlich (v)erzogene Ohren klingt der traditionelle, arabische Maqam-Modus seines Gesangs nicht sonderlich aufregend, dabei ist der Sound des 42-jährigen Mike Sharif geradezu rebellisch. Der in der israelischen Stadt Eilat geborene Sänger gehört der religiösen Minderheit der Drusen an und singt sowohl auf Hebräisch als auch auf Arabisch. Ende September rief ein Auftritt von ihm nahe der palästinensischen Stadt Hebron im Westjordanland Szenen hervor, die es in Israel selten gibt: Ein paar tausend junge Palästinenser*innen jubeln dem Israeli zu. Eigentlich wollte er im arabischen Gebiet nicht auf Hebräisch singen, sagte er später der israelischen Tageszeitung Haaretz, aber das Publikum verlangte nach den Hits in seiner Muttersprache.

Sharif, dessen Songs häufig von fröhlicher Zusammenkunft, von Glück und Liebe handeln, scheint dieser heikle Spagat nicht zu genügen. Demnächst will er bei einer Hochzeit in Gaza spielen. Der von der radikalislamischen Hamas kontrollierte Landstreifen im Osten ist, im Gegensatz zum Westjordanland, für Israelis normalerweise nicht einmal zugänglich. Eine solche Veranstaltung gab es dort, wo viele Menschen unter unwürdigen Bedingungen leben, noch nie. Sie wahr werden zu lassen, ist eine organisatorische Herausforderung. Sowohl mit den israelischen Sicherheitskräften als auch mit der Hamas muss für einen Zutritt verhandelt werden. Beide haben normalerweise nicht viel Interesse an allzu viel Austausch. Die Details des Auftritts bleiben vorerst geheim.

Sollte er gelingen, wäre das eine kleine Sensation, ein wenig Licht, wie Netta Barzilai sagen würde, in großer, alter Dunkelheit. Auf Hebräisch sagt man „behatzlacha“, „geh mit Erfolg“, oder kurz: viel Glück.

Konstantin Nowotny ist Redakteur und Musikkolumnist des Freitag und aktuell für zwei Monate als IJP-Fellow in Israel

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