Ein kleiner, scheuer Geist von ’89 geht um

Aufbruch Ost 30 Jahre nach der Wende fordern Leipziger Aktivisten, dass die Politik der Treuhand endlich aufgearbeitet wird
Ausgabe 43/2019
There Is A Light That Never Goes Out
There Is A Light That Never Goes Out

Foto: Imago Images/epd

Aufgebrochen wurde an diesem 9. Oktober zunächst wohl eher nach Hause. Zur diesjährigen Feier der historischen Montagsdemonstrationen in Leipzig goss es – wieder einmal – in Strömen. Geplant war ein stiller Umzug mit Teelichtern entlang der originalen Demo-Route von 1989. Aber viele Kerzen ersoffen. Die Teilnehmer schleppten sich an einem nasskalten Herbsttag mit Schirmen durch die Innenstadt.

Egal: Auf den romantischen Einheitsumzug hatten eine Handvoll Mitglieder von „Aufbruch Ost“ ohnehin keine Lust. Bereits im vergangenen Jahr hatten sie sich mit einem großen Transparent direkt an den Augustusplatz gestellt, wo harmonische Einheitsansprachen gehalten und Kerzen verteilt wurden. Darauf stand „Friede, Freude, Einheit? Treuhandaufarbeitung jetzt!“.

Auf dem „Lichtfest“, mehr Stadtmarketing als Andacht, sind üblicherweise keine Transparente zu sehen, keine Sprechchöre zu hören. Es ist keine Demonstration, sondern eine Demonstrations-Wiederaufführung. Dieses Jahr ließen die Behörden die Gruppe mit ihrem Transparent erst spät aufs Fest. Der Anschlag von Halle war gerade einmal ein paar Stunden her und die Beamten sichtlich nervös. Aus der Ferne konnte die Gruppe hören, wie die Soziologin und DDR-Bürgerrechtlerin Kathrin Mahler Walther sie auf der Bühne eine „Hoffnung“ nannte. Immerhin.

Als sie dann doch auf den großen innerstädtischen Platz durften, wo Teelichter in einer „89“-Formation gelegt wurden, war fürs Flugblattverteilen nicht mehr viel Zeit. Gegen 20 Uhr näherte sich dann eine leicht durchnässte, aber strahlende Mitstreiterin einem Fahnenträger und verkündete stolz, dass sie alle 2.000 Exemplare losgeworden sei. Die Gruppe zog mit dem Banner vom Augustusplatz ab, bewegte sich langsam durch die Innenstadt in Richtung Hauptbahnhof. Unterwegs blieben Passanten in skeptischer Distanz stehen, schauten ungläubig auf die Formel, machten Fotos. Einige kamen ins Gespräch. Diesmal stand auf dem Transparent: „Für einen Aufbruch im Osten. Solidarisch. Demokratisch.“

Schon im Vorjahr wurden sie von der Autorin Clara Ehrenwerth auf Twitter als „kleiner, scheuer Geist von ’89“ bezeichnet. Dieser kleine, scheue Geist scheint so sehr aus der Vergangenheit zu spuken, dass er sogar jene ein wenig gruselt, die ihn einst beschworen.

„Viele waren beeindruckt und verwundert, dass da so 20- bis 30-Jährige unter diesem Transpi stehen und nicht die Generation 50plus, die mit der Treuhand persönliche Erfahrungen gemacht hat“, sagt Jette Helberg, die mit auf dem Lichtfest war. Helberg, Anfang 20, studiert Geschichte in Leipzig und ist bei der Gruppe von Anfang an aktiv. Sie hat keinerlei Berührungspunkte mit der Treuhand, weiß aber mehr darüber als so mancher Ossi. Wieso interessiert sich so jemand jetzt für die Verwerfungen der Wiedervereinigung, diskutiert mit Behörden im strömenden Regen, verteilt Flugblätter?

„Aufbruch Ost“ gründete sich im September 2018. Ein paar junge Menschen erwarteten das Folgejahr mit Sorge, blickten auf drei Landtagswahlen in Ostdeutschland, eine Europawahl und das Mauerfalljubiläum. Sie beschlossen, diese Ereignisse „einheitskritisch“, wie sie es nennen, zu begleiten. Seitdem organisiert „Aufbruch Ost“ verschiedene Veranstaltungen und versucht, mit Menschen ins Gespräch zu kommen.

Ihre Befürchtungen für 2019 haben sich bislang bewahrheitet. Die Landtagswahl in Thüringen steht noch aus. Danach will sich die Gruppe auf 2020 konzentrieren. Auch zum 30. Einheitsjubiläum wollen sie die Harmonie ein wenig stören. Mit Spannung erwarten sie zudem die teilweise Freigabe der Treuhand-Akten im kommenden Jahr. Eine 30-jährige Sperrfrist endet dann.

Politiker unterschiedlicher Fraktionen wollen die Freigabe der Akten seit Jahren. Besonders die AfD und die Linke haben im Osten verstärkt Wahlkampf mit der Forderung nach einer Aufarbeitung der Treuhand-Politik gemacht. Zumindest für die AfD schien diese Rechnung aufgegangen zu sein.

Dass die kritische Aufarbeitung der Wende von rechts besetzt wurde, war auch ein Anlass für die Gründung von „Aufbruch Ost“. Die Gruppe versteht sich als linkes Bündnis, kooperiert aber nicht mit einer Partei. „Das haben wir auch nicht vor“, setzt Jette Helberg nach.

Sie spricht ruhig, formuliert überlegt, nennt ihre Themen: Die Unterrepräsentanz der Ostdeutschen in Ministerien und an Hochschulen, die zu niedrigen Löhne und Renten im Osten. Sie selbst ist nicht im Osten aufgewachsen, hat die Wende aber als politisches Thema für sich entdeckt. Dass sich die AfD in Ostdeutschland rasant zu einer der politisch einflussreichsten Kräfte entwickelt hat, überrascht sie wenig.

Aber was tun? „Es ist wichtig, sich mit rassistischen Kontinuitäten in Ostdeutschland auseinanderzusetzen und sich klarzumachen, dass Menschen, die AfD wählen, wissen, dass es eine rassistische Partei ist. Es ist aber auch wichtig, nicht davon auszugehen, dass Menschen in Ostdeutschland viel rassistischer sind oder sich eher autoritären Parteien hingeben. Man sieht daran die Wut, die sich unserer Ansicht nach ganz eindeutig zum Teil aus den Abwicklungen durch die Treuhand ergeben hat.“

Die Gruppe sucht Anknüpfungen an andere Initiativen. Im „Sommer der Solidarität“, eine Eigenbezeichnung des „unteilbar“-Bündnisses für diverse Aktionen dieses Jahr, hat sich „Aufbruch Ost“ an der „Wann, wenn nicht jetzt“-Tour beteiligt, ging weiterhin mit Kaffee und Keksen ins kleinstädtische Ostdeutschland, nach Plauen, Zwickau, Zeitz, suchte den Dialog. Es geht nicht immer um die Treuhand. Vergangene Woche war die Gruppe bei einer Veranstaltung zu „Ostdeutschen Frauenkämpfen um 1989“ in Dresden beteiligt.

Inmitten der vielen „Gegen“-Bündnisse wirkt die Gruppe erfrischend inhaltlich. Eine „Tourismus-Veranstaltung“, nennt Helberg das Lichtfest in Leipzig, bemängelt die unkritische Darstellung der Wende und legt sofort nach, woran sie beim Jubiläum lieber erinnern würde: „Treuhand, drei Millionen Arbeitslose in vier Jahren, Abwicklung von 8.500 volkseigenen Betrieben.“

Bedingt begeisterungsfähig

Kommt das auch an? Helberg schildert, dass nicht jeder für die Aufarbeitung der Treuhand begeisterungsfähig ist. „Dann kamen manchmal so Sätze wie: Das ist doch 30 Jahre her, was soll man da jetzt noch drüber reden?“ Es hätten sich aber auch Menschen dafür bedankt, dass die Jungen das Thema wieder ansprechen. Die Dialogbereitschaft kennt Grenzen: „Wenn Aussagen menschenverachtend werden, brechen wir das Gespräch ab.“

„Aufbruch Ost“ besteht aus 40 bis 50 aktiven Mitgliedern, überwiegend Studenten. Neben Leipzig hat sich eine weitere Ortsgruppe in Erfurt gegründet. Einige arbeiten 20 Stunden die Woche für das Kollektiv. Mails beantworten, Veranstaltungen organisieren, Interviews geben. Viel unbezahlte Arbeit für wenig Diskursverschiebung.

In Zukunft soll der inhaltliche Fokus noch deutlich breiter werden. „Wir wollen Leute in Ostdeutschland dazu ermutigen, sich wieder zu ermächtigen, für gewerkschaftliche Organisation oder die Gründung von Betriebsräten. Für einen emanzipatorischen Aufbruch von unten, von links“, sagt Jette Helberg. Klingt nach Klassenkampf? Helberg lächelt, macht eine kurze Pause. „Mit solchen Begriffen arbeiten wir nicht“, sagt sie.

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