Architekt der Gänsehautmomente

Casper Sein neues Album „Alles war schön und nichts tat weh“ ist eine Offenbarung, für jeden der noch fühlt
Ausgabe 08/2022
„Schön“ sind viele Themen auf seinen neuem Album nicht unbedingt, dafür aber der Sound – und er: Benjamin Griffey alias Casper
„Schön“ sind viele Themen auf seinen neuem Album nicht unbedingt, dafür aber der Sound – und er: Benjamin Griffey alias Casper

Foto: Chris Schwarz

Es waren wilde Zeiten in den Nullerjahren. Männer, die über ihre Gefühle reimten, galten als seltsam derangiert und nicht kompatibel mit „richtigem“ Rap. „Emo-Rapper“ wurde Benjamin Griffey alias Casper 2009 vermeintlich beleidigend genannt, dabei war er der Zeit schlicht voraus: Seine Themen – Nostalgie, Psyche, Schmerz, gern vorgetragen in einer Art von introspektivem Furor – sind heute unter Umständen Hitgaranten. Caspers mit dreifachem Goldstatus belohntes Album XOXO (2011) ist dafür mitverantwortlich.

Eine Erfolgsformel? Alles war schön und nichts tat weh, Caspers fünftes Studioalbum, trägt im Titel ein Kurt-Vonnegut-Zitat. Der gleichnamige erste Track überrascht mit zaghaftem Gesang, holt Kennerinnen und Kenner aber zügig mit vertrauter Grübelei ab: „Was, wenn die besten Tage da nur ’ne Phase waren? Nur der zuckende Tritt, bevor wir geschlafen haben?“ Wofür jenen Unglücklichen, deren Kopf ähnlich tickt, oft die Sprache fehlt, findet Casper wieder Zeilen. Ein Albumanfang wie ein Heimspiel.

Dann: Mord, Suizid, Krankheit – nein, „schön“ sind die Themen im naiven Sinne nicht, und weh tun sie fast alle. So skizziert etwa Billie Jo laut Künstler die Geschichte seiner Cousine und ihres Mannes, ein traumatisierter US-Kriegsveteran. Dem halb amerikanisch, halb deutsch aufgewachsenen Casper gelingt in dem starken Track neben der biografischen Würdigung ein dramatisches Porträt der USA und ihres Umgangs mit Veteranen.

Generell spielt Ich-Lyrik auf diesem Album nicht die Hauptrolle. Casper spürt seinen Charakteren aber so sauber nach wie zuvor sich selbst: Zwiebel & Mett sowie Das bisschen Regen zeichnen Geschichten von Armut und Ausschluss, Katastrophen und verlogener Bürgerlichkeit – und wie: „Wo die Fahne weht fürs Vaterland, genäht und made in Pakistan, erzählt man sich bei Raki-Schnaps, wen man fickt, nicht wen man wählt, das bleibt privat verdammt.“ Die saubere Reimkette, dazu die clevere Beobachtung: Der einst verschmähte Storyteller schüttelt heute aus dem Handgelenk, was vielen Rappern selten gelingt.

Wer will sich begrenzen?

Begleitet wird das kathartische Drama von einem cineastischen Soundtrack. Produzent Max Rieger (u. a. Die Nerven), aktuell so eine Art Schamane für deutsche Produktionen, arbeitet mit sanften Schwingungen und starken Zerrungen, mit Gospelklavier, Banjo, Chor und ungewöhnlichen Akkordwechseln. So unterstützt kommt Casper als minutiöser Architekt für Gänsehautmomente zur Geltung, baut unerlässlich Stimmungen auf, die funkelnd explodieren oder nervös stehenbleiben.

Manches gelingt dabei ausufernd, wie etwa das fantastische siebenminütige Fabian. Aber wer will sich begrenzen, wenn er etwas zu erzählen hat, so wie Casper über einen todkranken Freund? Und wer muss noch auf Spotify-Playlisten voller genormter Zweieinhalbminüter stattfinden, wenn er längst sein eigenes Genre ist?

Lügen nützt nichts: Die große Geste, dieser Sound, die feinen politischen Kommentare – es ist der Stoff, aus dem Feuilletonlieblinge gemacht sind. Aber auch wem die zahlreichen (Selbst-)Referenzen entgehen und die hochkarätigen Featuregäste (u. a. Lena, Haiyti, KUMMER) nichts sagen, wird den Themen und dem Sound von Alles war schön und nichts tat weh nur schwer aus dem Weg gehen können. Es ist im besten Sinne ein Erlebnis für jeden, der noch fühlt.

Info

Alles war schön und nichts tat weh Casper Eklat/Sony 2022

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