Was heutige Bewegungen von 1989 lernen können

Wende Die DDR galt als System so steinern wie die Mauer, die es hervorbrachte. Der Herbst 1989 zeigt, dass sich mehr ändern kann, als man glaubt
Ausgabe 42/2019
Das warenförmige Gedenken will die Vergangenheit immer als Rechtfertigung für die Zukunft heranziehen, wie hier beim Lichterfest in Leipzig
Das warenförmige Gedenken will die Vergangenheit immer als Rechtfertigung für die Zukunft heranziehen, wie hier beim Lichterfest in Leipzig

Foto: Imago Images/epd

Christoph Hein meinte die DDR, als er im Herbst 1989 sagte: „Fast jeder Staat der Erde ist bemüht, seine Vergangenheit für die Gegenwart zu schönen.“ Wie wahr die Worte des Schriftstellers knapp 30 Jahre später noch immer sind, offenbarte sich auch dieser Tage: Kürzlich richtete die staatliche Leipzig Tourismus und Marketing GmbH wieder ihr Lichtfest zum 9. Oktober aus; mit Teelichtern in der Hand begingen Tausende Leipziger die historische Route der Montagsdemonstrationen 1989. Friede, Ruhe, Einheit. „Revolutions-Disneyland“ nannte das Stadtmagazin kreuzer das Event.

Befragt von der Leipziger Volkszeitung, lobte am Tag nach dem Lichterfest ein Leipziger die Gewaltfreiheit der Montagsdemonstranten damals, um dann seine Kritik am Heute anzubringen: „Die aktuellen Klimademonstrationen in Berlin“ würden „immer mehr auf Gewalt“ setzen. Blockaden von Straßenkreuzungen, Brücken und Parteizentralen als Gewaltakte der friedlichen Revolution 1989 gegenüberzustellen, das ist verwegen – die Analogie der Proteste aber ist schon interessant.

Wie gestern fordern die Menschen radikale Reformen; damals waren es anders als heute übrigens nicht primär die Jungen, die revoltierten, nein, die Energie und der Veränderungswille gingen vom Mittelbau der Gesellschaft aus. Und die Regierenden gaben und geben sich große Mühe, die Unveränderlichkeit des Bestehenden vorzugaukeln. Was nun sollen wir, die damals zu jung waren, um dabei zu sein, aus den Ereignissen von vor 30 Jahren anderes lernen als: Was heute scheinbar stabil ist, kann morgen implodieren. Scheinbar starre Systeme können sich als fragil erweisen. Massenhafter Protest kann Unvorstellbares erreichen. Dann wird ein Blick auf den „Himmel der Geschichte“, wie es bei Walter Benjamin heißt, frei.

Schon wahr, gestern ging es um ein ganzes politisches System, eingebettet in einen äußerst komplexen historischen Rahmen und weltpolitische Konstellationen, und am „Himmel der Geschichte“ zogen statt all der nun frei äußerbaren Reformwünsche schon bald die Wolken des westlichen Kapitalismus auf, des freien Marktes und der Eingliederung Ostdeutschlands in diesen. Als alternativlos gilt diese Entwicklung heute.

Das herrschende System wird noch in der akutesten Krise Wege suchen, den Protest mit Reförmchen zu vereinnahmen und uns zu beschwichtigen – und im Nachhinein den Lauf der Geschichte als den einzig möglichen darzustellen. Keineswegs war die Einheit das, was den Intentionen der Montagsdemonstrationen im Oktober 1989 entsprach. Aber im warenförmigen Gedenken, wie in Leipzig, wird es bis heute so verkauft.

Der Klimawandel, der uns heute umtreibt, ist bestimmt nicht weniger komplex als die Lage damals. Samt Déjà-vu: Als Antwort auf die Fridays-for-Future-Bewegung legt die Regierung erst mal ein Klimapaket vor, das nichts Grundsätzliches ändert, aber natürlich als gewissenhaftes Einlenken, als historischer Schritt verkauft wird.

Nun, die Montagsdemonstrationen haben Möglichkeiten eröffnet, die bis dato unmöglich schienen; da wurden nicht nur ein paar Straßenecken besetzt, nein, da brach ein ganzes System zusammen. Wir Spätgeborenen können daraus lernen, dass sich mehr ändern kann, als vorstellbar ist.

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