Wie hört man eine Schallplatte, die 600 Euro wert ist?

Kolumne Den Hype um die Tonträger aus PVC hat unser Autor eigentlich nie begriffen. Und doch: Als ihm das Schicksal eine originale Erstauflage von Black Sabbaths „Paranoid“ in die Hände spielt, wird ihm plötzlich ganz anders
Ausgabe 41/2023
Kein Staub, keine Kratzer auf dem legendären Studionalbum „Paranoid“ von diesen Jungs
Kein Staub, keine Kratzer auf dem legendären Studionalbum „Paranoid“ von diesen Jungs

Foto: picture alliance/DALLE APRF

„Ein Klassiker, die muss man natürlich haben, aber für weniger als 20 kann ich die nicht aus der Hand geben“, sagt mir ein freundlicher mittelalter Mann, durch dessen Finger Tausende Schallplatten gewandert sein müssen. Bei dem derzeitigen Vinyl-Hype will ich möglichst nicht zu sehr mitmischen. Viel zu offensichtlich haben es meiner Meinung nach die Plattenfirmen auf eine kaufkräftige Zielgruppe abgesehen, die Schallplatten als Ergänzung ihrer Inneneinrichtung begreift. Wohler fühle ich mich daher da, wo der Tauschwert noch auf Zuruf verhandelt wird: auf dem Flohmarkt.

In der Hand halte ich Paranoid, das legendäre zweite Studioalbum der britischen Band Black Sabbath aus dem Jahr 1970. Es ist die Blaupause für alles Metallische, satte elf Jahre vor der Gründung einer Kapelle namens Metallica, fünf Jahre vor Iron Maiden. Ozzy Osbourne klingt hier wie von einem anderen Stern, der Titeltrack wurde ein Hit, das Cover-Artwork ist unverkennbar noch vom psychedelischen Rock der späten 60er Jahre inspiriert, genau wie der Sound. Spät habe ich ihn für mich entdeckt, diesen Meilenstein des Heavy Metal, aber dann sofort lieben gelernt.

20 Euro sind für eine Flohmarktplatte nicht wenig, aber diese hier sieht sehr gut aus, das Cover glänzt sogar fast ein wenig. Nachdem ich mich damit abgefunden habe, dass ich nun schon Musik mag, die selbst mein Vater „Altmännermusik“ nennen würde, entscheide ich, ohne zu verhandeln: Ich nehm’ sie.

Der Marx'sche Warenfetisch

Ein Vinyl-Freak bin ich eigentlich nicht. Ich weiß wenig von Erstauflagen und Sondereditionen, ich fetischisiere nicht das Kratzen der Rillen oder glaube, mit einer Musikanlage im fünfstelligen Bereich Jesus Christus nahe sein zu können. Wer viel Geld dafür bezahlen will, dass sein PVC von hier und nicht von dort kommt, der möge das tun. Für mich ist das nichts. Das beinahe makellose Aussehen meines Neuerwerbs macht mich aber dennoch neugierig. Ich beschließe, die Platte vor dem ersten Auflegen nachzuschlagen.

Über 600 im Umlauf befindliche Versionen von Paranoid listet die Plattform Discogs, die meisten davon verschiedenartige Vinyls. Ich suche nach eindeutigen Identifikationsmerkmalen, werde fündig, und kann es kaum glauben: Allem Anschein nach handelt es sich bei dem von mir erworbenen Tonträger um eine originale Erstauflage aus dem Jahr 1970. Schätzwert, je nach Zustand: zwischen 80 und 600 Euro. Mein Exemplar hat kaum ein Staubkorn auf den Rillen.

Plötzlich werde ich leibhaftiger Zeuge des Marx’schen Warenfetischs: Vor meinen Augen verwandelt sich ein Stück Plastik mit Pappe in eine Art Goldnugget. 600 Euro. So viel wie ein recht neues Smartphone. Oder ein recht altes Moped. Ich muss an einen Text von einem Journalisten denken, der als Weinliebhaber eine Flasche für knapp 2.500 Euro kaufte und sich dann kaum traute, sie zu trinken.

Eine Schallplatte, kein Monet

Nun: Eine Platte ist kein Rotwein, sie klingt nicht besser, weil sie alt und teuer ist. Trotzdem vergehen Monate, ehe ich sie auflege. Erst will ich sie bloß nicht beschädigen. Dann den Moment zelebrieren, mir Zeit nehmen. Dann denke ich: Auch ein Flohmarkthändler hat doch einen Internetanschluss, es muss eine Fälschung sein! Dann komme ich mir albern vor: Wozu der Terz? Es ist eine Schallplatte, kein Monet. Ich sollte sie einfach hören.

An einem völlig belanglosen Tag ist es so weit: Ich gieße mir melodramatisch einen Whisky ein, muss noch mal kurz an meinen Vater denken und lege sie dann auf, die echte Paranoid, wie sie vor über 50 Jahren vielleicht ein junger Teenager in der Hand hielt. Oder eben nicht.

Die Nadel sinkt. Das Intro von War Pigs beginnt, taumelt, dann schwillt der Song so an, wie ich es kenne. Das Album klingt fabelhaft, auch nach so langer Zeit. Mit dem Medium hat das gar nichts zu tun.

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