Krisenplenum Wenn es um Corona geht, herrscht in linken Kreisen bis heute vielfach ein autoritäres und ängstliches Gebaren. Eine Analyse der gesellschaftlichen Ursachen dieser Ängste ist kaum gefragt
Keiner, der mich je gesehen hat, hätte das geglaubt – Küssen ist bei mir nicht erlaubt
Foto: Rafal Milach/Magnum Photos/Agentur Focus
Wann hat Ihnen zuletzt jemand ins Gesicht gebrüllt: „An Corona sterben Menschen!“? Bei mir ist es noch nicht lange her. Letzten Herbst saß ich in einer Runde von Leuten, die alle zum linksliberalen Spektrum gehörten. Wir waren auf einer gemeinsamen Reise und jemand hatte sich mit Corona infiziert. Die Runde beratschlagte, wie man jetzt mit der „schwierigen Situation“ verfahren wolle. Alle waren sich schnell einig. Maske auf! Die Kranken isolieren! Und wer hustet – testen, testen, testen!
Ich wagte anzuzweifeln, dass das sinnvoll sei. Mich irritierten die panischen Reaktionen der Gesunden und der Umgang mit den Kranken. Die Diskussion eskalierte rasant. Man empfand meinen Einspruch als unsolidarisch und verharmlosend. Auf einem späteren Krise
eren Krisenplenum verkündete jemand: „Wenn es um Gesundheit – und letztlich das Leben! – geht, gibt es für mich keine Meinungen mehr.“Ironischerweise sagte etwa im gleichen Zeitraum ausgerechnet der als vorsichtig bekannte Virologe Christian Drosten in der Zeit Sätze wie: „Zum Selbstschutz würde ich keine Maske mehr tragen“ und „Die Pandemie ist beendet, der globale Gesundheitsnotstand vorbei“. Somit „ist Covid für die meisten Menschen jetzt wie eine Erkältung – oder manchmal wie eine Grippe“.Die Sache wäre nicht weiter der Rede wert, wenn es sich um einen skurrilen Einzelfall handeln würde. Doch das ist leider nicht der Fall. Die Anekdote ist vielmehr ein besonders heftiges Symptom von einer Art „gesellschaftlichem Long Covid“. In den vergangenen drei Jahren wurden Verhaltensweisen durchgesetzt, die man „vor Corona“ für undenkbar gehalten hätte. „Nach Corona“ wird man sie nicht mehr los. Es ist wie beim medizinischen Long Covid: Das akute Geschehen ist längst abgeklungen, aber die Symptome bleiben.Dieses gesellschaftliche Long Covid greift in linken und feministischen beziehungsweise queeren Kreisen besonders um sich. Im Juli dieses Jahres ließ ein anarchistisches „Care-Team“ die Besucher des „Internationalen Antiautoritören Treffens“ in der Schweiz vorab auf der Homepage wissen: „Personen mit Symptomen einer Krankheit (Atemwegs- oder andere Krankheiten) sind dafür verantwortlich, andere nicht anzustecken.“ Man rang sich zwar zum Verzicht auf Zwangsmaßnahmen durch, konnte aber von der autoritären Versuchung nicht ganz lassen: „Wir werden die Menschen nicht dazu zwingen, überall und immer Maske zu tragen, da wir auf die Solidarität der Teilnehmenden zählen.“ Wehe den Unsolidarischen!Auch bei unpolitischen Vorhaben wie dem Besuch einer Party werden im Vorfeld die Teststäbchen gezückt. Die einen erzählen von „positiven Tests“ – ohne, dass man erfährt, ob die Getesteten krank seien oder wie es ihnen denn nun tatsächlich gehe. Die anderen schildern ausführlich Erkältungssymptome, bevor sie im Kino oder in der Bar Freunde treffen, und erkundigen sich schuldbewusst, ob sie „trotzdem“ kommen dürfen.Coronakrise und PrekarisierungswellenDer Corona-Ausnahmezustand ist offiziell beendet, aber inoffiziell schwelt er weiter – im sozialen Miteinander, in politischen Forderungen, im Umgang mit Gesundheit und Krankheit. Warum ist das so? Eine plausible Erklärung lautet: Mit den Reaktionen auf das Coronavirus wurden oft weniger medizinische, sondern vor allem gesellschaftliche Probleme bearbeitet.Der marxistische Theoretiker Fabio Vighi sagte in einem Interview: „In den 1960er Jahren, als der Konsumkapitalismus noch boomte, hätte man sich angesichts einer Gesundheitskrise niemals entschlossen, eine florierende Wirtschaft zu gefährden. Das Virus konnte eine solche Wirkung nur im Finanzmarktkapitalismus entfalten.“Warum? Im Finanzkapitalismus drohen die gigantischen Spekulationsblasen ständig zu platzen. Die dadurch entstehenden Zahlungsausfälle zeitigen Dominoeffekte, die leicht in einem Zusammenbruch des gesamten Systems enden können. Ein solcher Crash kündigte sich zuletzt Ende 2019 an. Das kann niemand wollen, also werden – verkürzt zusammengefasst – die Löcher des Finanzsystems gestopft, indem Zentralbanken per Mausklick gigantische Summen an frischem Geld ohne realen Wert bereitstellen, um das Kredit-Casino am Laufen zu halten.Der Haken an der Sache: Mit der Geldschwemme steigt die Gefahr einer Hyperinflation. Sie kann nur abgewendet werden durch die „kontrollierte Zerstörung einer bereits stagnierenden Realwirtschaft“ (Vighi). Je weniger real konsumiert und produziert wird, desto besser lässt sich die Inflation kontrollieren. Tatsächlich wurde während der Coronakrise durch Lockdowns und Kontaktverbote eine zuvor kaum vorstellbare Drosselung des ökonomischen und sozialen Lebens durchgesetzt. Die Folgen: Prekarisierungswellen, Pleiten kleinerer und mittlerer Betriebe, Absturz des Kulturbetriebs. Dieser Niedergang der Realökonomie stabilisiert perfiderweise den Finanzkapitalismus: „Die Aktienmärkte florieren, viele Milliardäre sind während der Coronakrise noch reicher geworden. Wohin mit dem vielen Geld?“, heißt es in einem gut gelaunten Bericht aus dem Manager Magazin von 2021.Ambivalenz-IntoleranzAusgerechnet Linke missverstanden die Verheerungen des Pandemiemanagements aber als solidarische Opfer im Dienste der Gesundheit und des Lebens. Paradoxerweise wurden Linke so zum Steigbügelhalter einer neuen ideologischen Konstellation des zeitgenössischen Kapitalismus.Die „Solidarität“ – einst ein linker Kampfbegriff – hat sich in eine ideologische Wunderwaffe des Kapitalismus verwandelt, mit der man uns moralisch nötigt, den gesellschaftlichen Ruin individuell zu rationalisieren. Dass diese ideologischen Verdrehungen so gut funktionieren, liegt auch an der psychischen Verarbeitung des real existierenden Elends. Der autoritäre Katastrophenkapitalismus erzeugt Angst. Wir fühlen uns – zu Recht – ohnmächtig und schutzlos. Es fehlt eine politische Kraft, die die gesellschaftlichen Ursachen dieser Ängste adressiert und in kollektives Handeln übersetzt. Da diese Vermittlung ausbleibt, versucht man im besten Fall „im Kleinen“ etwas zur Vermeidung der Apokalypse beizutragen. Im schlimmsten Fall entkoppeln sich die Ängste von der Wirklichkeit und schlagen um in aggressive Wahnvorstellungen.Während der Coronakrise entstanden die bizarrsten Verschwörungstheorien, begleitet von einer breiten rechten bis rechtsextremen Mobilisierung. Dagegen vorzugehen ist wichtig und richtig. Nur wie? Der Philosoph und Soziologe Alan Schink weist darauf hin, dass der Kampf gegen die Verschwörungstheorien während der Coronakrise selbst paranoide Züge annahm.Nicht zuletzt auch deshalb, weil alles vermischt wurde: Der „Krieg gegen das Virus“ (Macron) wurde zum Kampf „gegen abweichendes Wissen“ (Schink) und seine Vertreter. Plötzlich konnte es jeden treffen. Etablierte Virologen, Ärzte, Statistiker, genauso wie Juristen, Pädagogen, Philosophen, Nachbarn oder enge Familienmitglieder. Es genügten Kleinigkeiten, um sich verdächtig zu machen. Zum Beispiel: „Die Zahlen“ mit anderen Zahlen vergleichen. Auf die Verflechtung von Politik und Pharma- beziehungsweise Gesundheitsindustrie hinweisen. Eine Impfpflicht oder die Segregation von Ungeimpften ablehnen, sei es aus ethischen oder grundrechtlichen Erwägungen oder mit dem epidemiologischen Argument, dass auch Geimpfte das Virus weiterverbreiten. All das klang bald irgendwie „verschwörungstheoretisch“ und legitimierte eine verstörende und vermeintlich politisch korrekte Aggression gegen Einzelne und ganze Bevölkerungsgruppen.Paranoia, weitgehende Ambivalenz-Intoleranz und autoritäres Verhalten sind, wie auch Alan Schink betont, „kein Alleinstellungsmerkmal der Verschwörungstheoretiker“. Man findet diese Merkmale auch bei denjenigen, „die Verschwörungstheorien wie Viren erbittert bekämpfen und ausrotten wollen“. Lächerlich gemacht werden aber nur die tatsächlichen – oder vermeintlichen! – Verschwörungstheoretiker. Die paranoiden Feindbildkonstruktionen (Stichwort: „Pandemie der Ungeimpften“) und Kontrollzwänge (Stichwort: Testen! Testen! Testen!) aus dem Team Vorsicht oder noch radikaleren Safe-Space-Sekten gelten hingegen bis heute als vernünftig.Die Symptome des „gesellschaftlichen Long Covids“ – von der neoliberalen Pervertierung der Solidarität in eine autoritäre Verhaltensmoral bis zur paranoiden Eindämmung der „Feinde“ – werden nicht verschwinden. Egal, wie oft Christian Drosten Covid für ungefährlich erklärt. Diese Symptome bleiben, weil die Ursachen älter und gravierender sind als Covid. Und auch, weil die Symptome funktional sind für die Aufrechterhaltung der Ursache selbst.Placeholder infobox-1
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