Zeitdiagnose Politiker erfinden immer öfter Probleme, zaubern die Lösungen dazu oder belassen es bei der Empörung. Wozu das führt, weiß Freitag-Autor Lennart Laberenz
Nicht jeder der Zähne zeigt, kann auch morgen noch kraftvoll zubeißen
Foto: Axel Martnes / Agentur Focus
Für eine interessante Zeitdiagnose leiht sich der Soziologe Steffen Mau grade einen Begriff aus dem Bereich der Haftpflicht: den Allmählichkeitsschaden. „Ich befürchte“, sagte er der Zeit, „dass gerade ständig Wasser in das Fundament des Hauses der Demokratie eintropft. Und es ist wahnsinnig aufwendig, das durchnässte Fundament wieder trockenzulegen.“ Der Begriff meint Schäden, die über längere Zeiträume entstehen. Sie werden oft spät bemerkt, die Reparatur wird dann teuer.
Die Phase, in der Grundmauern unterspült wurden, waren Zeiten der Post-Politik. Als die allermeisten von uns politische Strukturen für unveränderbar und alternativlos hinnahmen. Anstelle politischer Konflikte bevorzugten wir technokr
zugten wir technokratische Problemlöserei im Format großer Koalitionen. Gröbere Probleme wurden verdrängt: Eine Konsensdemokratie ohne Gegenüber. Sechzehn Jahre Angela Merkel.Gibt es eine Verbindung zwischen feuchten Fundamenten und Friedrich Merz’ Behauptungen über zahnärztliche Behandlung von Geflüchteten? Zusammenhänge zu Markus Söder, der zum Beispiel den Atommeiler Isar 2 weiter betreiben wollte? Es gibt sie, muss man fürchten, auf mehreren Ebenen. Die offensichtlichste ist eine Art von Fiktionalisierung der Politik. Das ist höflich umschrieben, was Menschen wie Steve Bannon als rhetorischen Dauerbeschuss der politischen Ordnung so kanonisierten: „Flood the zone with shit“.Wer Politik betreibt, muss sich auf das Geschäft der Suggestion verstehen. Länger bestand die darin, dass Menschen mit Mandat anstehende Probleme einigermaßen gefestigt angingen, auf Lösungen zustrebten. Vieles hatte mit Integrität zu tun, die eine mehr oder minder interessierte Öffentlichkeit diskutieren konnte. Außerdem mit Kontrollmechanismen von Parteigremien und Koalitionen.Fiktionale PolitikMan muss die Geschichte hier ein wenig zusammenkürzen. Aus europäischer Perspektive: Dann kam Silvio Berlusconi. Dann kam Wolfgang Schüssel. Viktor Orbán. Nicolas Sarkozy. David Cameron, Theresa May, Boris Johnson. Dann kam Sebastian Kurz. Alle gewählt, manche im Amt bestätigt. Sie bedeuteten die Preisgabe von Integrität. Reduzierten Politik zunehmend auf Interessen, die im eigenen sozialen Umfeld lagen. Griffen Justiz und Medien an. Das Geschäft der Suggestion wechselte ins Feld der Fiktion.Bedeutet: Politiker erfinden Probleme, zaubern fiktive Lösungen dazu. Oder belassen es bei der Produktion von Empörung. Friedrich Merz könnte wissen, dass über 80 Prozent derjenigen, die er „abgelehnte Asylbewerber“ nennt, den entwürdigenden Status der Duldung haben. Ein Gesetz legt fest, dass Geflüchtete in den ersten 18 Monaten nur im „akuten Schmerzfall“ behandelt werden. Danach Anrecht auf eine Versorgung haben, die mit Leistungen einer gesetzlichen Versicherung vergleichbar ist. Dass weit mehr Termine beim Arzt für Privatpatienten blockiert werden.Markus Söder weiß, dass es für Bundesländer keine rechtliche Grundlage gibt, Atomreaktoren zu betreiben, Isar 2 technisch und personell kaum länger laufen konnte. Als bayerischer Umweltminister hatte er „Konsequenzen“ angedroht, wenn die damalige Bundesregierung (CDU/CSU/FDP) den Ausstieg nicht auf 2022 festgelegt hätte. Vor der Abschaltung stellten sich Söder und Merz vor den Kühlturm von Isar 2. Raunten über ideologisch herbeigeführte Energiekrisen.Geschichten als inhaltlicher LückenfüllerDem Politikwissenschaftler Fabio Wolkenstein fiel bei der Analyse des europäischen Konservatismus (Die dunkle Seite der Christdemokratie, C. H. Beck) auf, dass die christdemokratische Ideentradition vor gegenwärtigen Herausforderungen blank dasteht: „Bei den Themen wie Klimawandel und Digitalisierung bietet der Ideenfundus der historischen Christdemokratie nicht einmal vage Anhaltspunkte.“ Ähnliches könnte er über SPD, FDP und Linke schreiben.Zu Allmählichkeitsschäden gehören der gesellschaftliche Abschied von politischen Parteien. Die SPD hatte 1990 rund 945.000 Mitglieder, etwas mehr als ein Drittel sind es heute. Die CDU schrumpfte auf 372.000 Mitglieder. Mit der personalen Entkernung verschwindet intellektueller Bestand.Politische Fiktion soll Leerstellen übermalen. Selbst wenn die SPD den letzten Bundestagswahlkampf mit (oft haltloser) Versprechensprosa führte, ist das leitende Genre die Bewirtschaftung von Empörung und Angst: Die FDP trommelte mit herbeifantasierten Kosten zum Widerstand gegen Wärmepumpen. Träfen sich alle Parteimitglieder, könnten sie grade ein größeres Fußballstadion füllen. Sahra Wagenknecht sitzt in weit mehr Talkshowstudios als Parlamentssitzungen, schürt die Furcht vor Atomkriegen und Grünen; attestiert Grenzen der Integrationsfähigkeit, will Migration begrenzen. Die Mitgliederzahl der Linken stürzt unter die 50.000.Migrant*innen sind nicht von sich aus eine Empörungs-Ressource: In einer Monografie über Grenzregime (Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft, Suhrkamp) arbeiten der Politikwissenschaftler Volker M. Heins und der Historiker Frank Wolff heraus, dass Angst vor Zuwanderern, die angeblich hineindrängten, bedrohlich seien, „hergestellt werden muss, bevor sie politisch instrumentalisiert werden kann“.Pullfaktor ZahnersatzInzwischen ist da längst mehr als Gerede: Bauwerke haben es zum Diskurs erweitert, Regeln und Regime sind in Stellung gebracht. Die EU hat bewehrte und bewachte Anlagen an Außengrenzen installiert, rüstet quasi-militärische Einheiten aus, Pushbacks werden geduldet. Davor sollen sich außen Flüchtende fürchten, innen wird damit die Gefühlsmöblierung der Gesellschaft konditioniert – Szenarien von Ansturm und Überforderung sollen sich zu „affektiven Tatsachen“ verdichten: „Gewaltsame Abwehr von Migration kann nur dann auf Dauer gestellt werden, wenn das menschliche Leid, das durch die Grenzen verursacht wird, sich irgendwie massenwirksam rechtfertigen lässt“, schreiben Heins und Wolff. Zahnersatz, kann man Merz paraphrasieren, ist Pullfaktor. An den Haaren herbeigezogen? „Flood the zone“.Wenn Geflüchtete-beim-Arzt thematisiert werden, muss Wahlkampf sein, es geht um Wahrnehmungsmanagement. Reale Zahlen vermerken, dass in Deutschland und Europa weit weniger Menschen ankommen als 2015 oder 2016. Dort zum Problem werden, wo Kommunen sich bei Investitionen zurückhielten. Weder Kriminalitätsstatistiken noch Bevölkerungsmeinung bemerken Ausschläge: Steffen Mau hat herausgefunden, dass zwei Drittel der Menschen mit Hauptschulabschluss der Ansicht sind, Einwanderung sei gut für die Wirtschaft. Die Hälfte derer, die zur Arbeiterklasse zählen, halten Zugewanderte für kulturell „bereichernd“, 61 Prozent der Deutschen denken so.Rechte FiktionAllerdings ist Achselzucken über die politische Fiktionalisierung gefährlich. Gerade hat der Politikwissenschaftler Peter R. Neumann Hinterlassenschaften von Rechtspopulisten untersucht. Weder FPÖ noch Trump konnten angebliche „Einheimische“ gegen die vermeintlichen „Fremden“ steuerlich besserstellen, ihnen höhere Sozialleistungen zuschanzen. Oder Zuwanderung überhaupt begrenzen. Ihr anti-liberaler Gestus übersetzte sich nicht in Politik, ihre größten Erfolge, schreibt Neumann, war „keine gesetzgeberische Leistung oder Regierungshandlung, sondern die Normalisierung rechtspopulistischer Narrative“. Symbolpolitik. Neumann hat seinen Essay Logik der Angst (Rowohlt) überschrieben.Die verändere die politische Kultur gründlich. Rechte Gruppen haben sich auf einen existenziellen Kampf gegen die liberale Gesellschaft eingeschworen. Über Brücken, die Populisten, Konservative und Liberale bauen, gelangen sie in ihre Mitte. In Europa disziplinieren sich immer mehr rechte Parteien unter dem Programm des „nationalen Konservatismus“ – der will nationale Identität und politische Souveränität über europäische Integration stellen. Agitiert gegen Zuwanderung. Manfred Weber hält Giorgia Melonis Postfaschismus für „konstruktiv“.Post-Politik ist schrillem Konflikt gewichen. Nach Trump hält ein Drittel der US-Bevölkerung das politische System für illegitim. Friedrich Merz hat Grüne zum „Feind“ erklärt, Söder wechselt ins Essenzialistische, „sie passen nicht zu Bayern“. Daraus sprechen Verlustängste – die Grünen haben dreimal mehr Mitglieder als 1990, 126.451 sind es inzwischen.Für manche Allmählichkeitsschäden müssen wir selbst haften. Sie entstehen, weil wir, räsonierte der Club of Rome vergangenes Jahr, die bedeutendste Herausforderung unserer Tage nicht meistern. Das seien weder Klimawandel, Verlust an Biodiversität oder Pandemien. Sondern: „unsere kollektive Unfähigkeit, zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden“.
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