Bayern: Verglichen mit Hubert Aiwanger ist Markus Söder eine schwache Nummer
Landtagswahl Bayern kämpft gerade mit separatistischen Phantomschmerzen. Davon profitiert Hubert Aiwanger, der beste Unterhaltungskünstler, den die CSU seit dem Tod von Franz Josef Strauß nicht mehr hatte. Ein Erklärungsversuch für den Rest der Republik
On Bayern leben halt Praktiker:innen, die Herausforderungen anpacken, statt sie zu verquatschen
Foto: Heike Ollertz/Agentur Focus
Es war eine dieser Familienfeiern, wo man sich nach Jahren wiedertrifft und kaum mehr erkennt, aber trotzdem alles von sich erzählen muss. Ein Cousin, mit dem man eine von aller Politik unberührte Kindheit verbracht hatte, mit dem man Fußball gespielt hatte, baden war, saufen war, rückte dann mit seinem Kummer heraus, den ihm seine eigene Tochter machte: Gescheit, verheiratet, selber schon Kinder, da fehlt nichts, aber: „Sie ist bei den andern.“
Wie sollte ich seinen Schmerz nicht nachfühlen, er war mein Cousin! Aber er meinte gar nicht die AfD, er meinte auch nicht die Grünen, denen seine Tochter erlegen war, ihm war das größte anzunehmende Unglück zugestoßen – die Lena war in die SPD eingetreten!
Nur die Ruhe, Aiwanger kom
uhe, Aiwanger kommt schon noch, Bayern ohne Aiwanger geht doch gar nicht.Die anderen, das ist in Bayern seit je die SPD, und das, obwohl sie, weiter oben im Norden oft eine staatstragende Partei, im Süden mit bloßem Auge kaum zu erkennen ist. Die SPD kann von Glück sagen, wenn sie bei der Landtagswahl am 8. Oktober auf acht, neun Prozent kommt.Diese anderen waren schon die bärtigen Literaten, die 1918 aus Bayern, das doch so lange so gut unter den Wittelsbachern gelebt hatte, unbedingt eine Republik machen wollten. Der Freistaat, den Kurt Eisner proklamierte, sollte schon im Namen das Ende der Monarchie anzeigen, aber dieses ausländische Zeug wollten sie in München nicht und im Oberland schon gar nicht.Die Preußin brachte den WahnsinnNiemand ist so verrückt, sich im Ernst den allerdings touristisch unendlich ausbeutbaren wahnsinnigen Ludwig II. zurückzuwünschen, aber hat er es nicht selber gesagt, dass seine Mutter, „die Preußin“, den Wahnsinn in die Familie gebracht habe? Aus dem Norden kommt das Böse, und gegen dieses fremde Böse wird in Permanenz rebelliert.Wenn Hubert Aiwanger ein ansonsten gut aufgelegtes sommerliches Publikum dazu aufruft, sich die Demokratie zurückzuholen, dann ist das auch der bayerische Separatismus, der mit dem Phantomschmerz kämpft. Da geht es gar nicht um Demokratie, die einem zu entgleiten droht, sondern um die verlorene Souveränität. In Bayern gab es ja einmal alles: nicht nur den eigenen König (der sich, was jeder weiß und doch wie ein Staatsgeheimnis behandelt wird, von Bismarck für etliche Millionen kaufen ließ), eine eigene Post, eine eigene Eisenbahn, ein eigenes Konkordat – alles dahin.Ludwig Thomas Tiraden auf BerlinUnd wohin? Nach Norden, nach Preußen. Schon Franz Josef Strauß machte sich über die „politischen Reclam-Ausgaben im Norden“ lustig und er meinte gar nicht „die andern“, sondern die Konkurrenten in der eigenen Union. Mag sein, dass die Strauß’schen Sprüche wie „Lieber ein kalter Krieger als ein warmer Bruder“ heute selbst am Gillamoos keine Beifallsstürme mehr auslösen würden, aber der Volkstribun Strauß wusste, womit er die Leute begeistern und zumindest zum Bestellen der nächsten Maß aufhetzen konnte.Strauß war bestimmt nicht der erste, der so schimpfen konnte und damit so populär wurde. Ludwig Thomas Tiraden auf Berlin, auf Kommunisten, Sozis, Homosexuelle, auf Karl Kraus und Kurt Tucholsky, die von 1920 bis 1921 anonym im Miesbacher Anzeiger erschienen, erregten, wie der Verfasser seiner Verlobten Maidi von Liebermann stolz erzählte, „Aufsehen bis nach Berlin hinauf“. Thoma, der als Simplicissimus-Redakteur zu den schärfsten Gegnern der Monarchie gehört hatte, wurde im Weltkrieg zum erbitterten Reaktionär. Die Münchner Räterepublik war für ihn eine Verunstaltung, für die er die Berliner Juden verantwortlich machte. „Ich bin Altbayer u. kein Galizier“, versicherte er seiner Freundin, und ganz bestimmt kein Antisemit. „Außerdem hoffe ich ja der jüdischen Rasse mein Liebstes zu verdanken.“Thoma nannte das „Dreinhauen, dass die Fetzen fliegen!“, Hauptsache, es ging gegen die „profitwütige Saubande im Norden“. Ob Aiwanger viel von dem trotz seiner späten Ausfälle großen Schriftsteller Thoma gelesen hat, kann man bezweifeln, er hat aber viel von dessen polemischer Technik der Antagonisierung gelernt. Bei Thoma geht es gegen die Weimarer Republik, die er und seine Anhänger nur „verabscheuen und hassen“ können. „Der Teufel hole Berlin und Alles, was dort unser Deutschland vergiftet, sein Schicksal durch großspuriges und pflichtvergessenes Wirtschaften besiegelt hat!“ Sein Schüler Aiwanger formuliert nicht ganz so ziseliert, aber nicht weniger deutlich, wenn er sein Publikum dazu auffordert, „denen in Berlin [zu] sagen, ihr habt’s wohl den Arsch offen da oben“.Bauernführer aus Mallersdorf„Ihr da oben, wir da unten“ ist die schlichteste und eindrücklichste Gewaltenteilung und sie funktioniert immer wieder. Da oben in Berlin regiert die Ampel, die hantiert mit dem „Heiz-Hammer“, will durch gleichgeschlechtliche Ehe die christliche Familie zerstören, nebenbei die deutsche Sprache kaputtgendern und kümmert sich mehr um die Zähne von Syrern und Afghanen als um die Nöte der heimischen Landwirtschaft. Hier herunten, also in Bayern, leben keine weltfremden Ideologen, sondern Praktiker, hier werden Probleme angepackt und nicht verquatscht, hier will man sich nichts vorschreiben lassen und schon gar nicht von Berlin.Dass es in Bayern noch eine ganz andere Tradition gibt, dass aus dem Mallersdorf, wo Hubert Aiwanger das Gymnasium besuchte, wo er mit seinem „Scheiß“ auffiel und dem Flugblatt, das er in seinem Schulranzen bekanntlich nur aufbewahrte, um zu „deeskalieren“, auch die radikalen Bauernführer Ludwig und dann sein Bruder Karl Gandorfer kamen, die sich gegen die Monarchie auflehnten und für die Demokratie kämpften, passt nicht in das wunderschön schlichte Weltbild Aiwangers. Für ihn ist das schlimmste anzunehmende Unglück bereits eingetreten, Berlin, die von da oben sind schon da. Dass sie nicht katholisch und womöglich für das Recht auf Abtreibung sind, ist noch nicht das Verwerflichste an den Grünen, sie sind nicht von hier, sondern eine großstädtische Partei, aus dem Norden. Sie funktionieren die Straßen zu autofreien Zonen um, der Mercedes soll in der Garage bleiben, freie Fahrt für das Lastenrad, die Großstadt greift aufs Land hinaus und ins Leben der berühmten einfachen Bürger und natürlich auch Bürgerinnen ein. Den Männern wollen die Grünen den Schweinsbraten verbieten, den Kindern den Religionsunterricht, den Bauern das Düngen und letztlich allen die Heimat nehmen.Aiwanger, ein klassischer bayerischer SeparatistDie SPD muss niemand fürchten. Sie macht in Bayern einfach keinen Stich und heute noch viel weniger als in der guten alten Zeit, als der Pfarrer noch von der Kanzel herab den sündigen Gedanken verdammte, eines seiner Schäflein drunten könnte das Kreuz anderswo als an der ersten Stelle machen. (Ein angejahrter Witz behauptet, dass die Kugelschreiber in den Wahlkabinen immer so kurz angebunden waren, dass die ohnehin nicht weiter als bis in die erste Zeile des Wahlzettels reichten.)Auch wenn er sich zu Schul- und Flugblattzeiten alle Mühe gab, wie einer aufzutreten, ist Hubert Aiwanger natürlich kein Nazi, schließlich hofft er, den bayerischen Wählern bald sein bisher bestes Ergebnis verdanken zu können. Er ist ein klassischer bayerischer Separatist und damit ist der Anführer der Freien Wähler zum bekanntesten Rebellen der Republik geworden. Der Hauptgegner dieser Gruppierung sind aber gar nicht die Grünen oder die SPD, das ist die CSU.Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben die Freien Wähler vor allem in Bayern Gemeinderäte und Bürgermeisterämter erobert, weil sie die seit 1957 ungebrochene Vorherrschaft der CSU nicht mehr dulden wollten. An der Basis geht es um Kindergartenplätze, Asylantenheime, Umgehungsstraßen, Grünflächen für Bienen, autarke Solarkraftwerke, lauter Anliegen, die die Staatspartei vernachlässigt hat. Vor Jahrzehnten gelangte Herbert Achternbusch zu der Zustandsbeschreibung: „In Bayern sind sechzig Prozent Anarchisten, und die wählen alle CSU.“ Die heutige CSU ist weit von diesen sechzig Prozent entfernt, aber Anarchisten sind die Bayern geblieben, selbst wenn sie jetzt Populisten wie Aiwanger zujubeln.Der Beste seit Franz Josef StraußErst Aiwanger hat aus dieser Bürgerbewegung ein rechtes Widerstandsprojekt gemacht, für das alle anderen, aber vor allem natürlich die Grünen, „die andern“ sind, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt und gegen die alles erlaubt ist. Der Fußballer Mehmet Scholl erwarb sich einst seinen Ruhm mit dem Spruch, man solle die Grünen an den Bäumen aufhängen. Bei Aiwangers feurigen Reden darf man froh sein, dass bisher erst einmal ein Stein auf eine Vertreterin der Grünen geworfen wurde.Dass die Bayern anders sind, weiß jeder Spiegel- und Zeit-Leser, sie sind putzige Kerle, Exoten. Diesem deutschen Hobby der Stammespsychologie frönte zuzeiten auch ein Franke, der vor den Nazis geflohen war und als Amerikaner Deutschland besuchen kam. 1952 schrieb Henry Kissinger an seine Eltern, dass sich nicht alles geändert hatte: „Die Bayern trinken wie früher, während die Hessen so widerlich wie eh und je sind.“Der nüchterne Hausverstand wird hier natürlich einwenden: Wenn sie es nur beim Trinken belassen würden! Oktoberfest und Trachtenumzug gut und schön, aber müssen die Bayern auch noch ernst machen? Mit seinem Waldler-Dialekt, seinem Bartschatten und seinen knalligen Sprüchen ist Aiwanger ein Geschenk fürs unverbindlich-aufrechte Kabarett. So ist er doch, der bierdimpflige Bayer, hat vor lauter Angst, die Wilden da oben in Berlin könnten über ihn herfallen, noch nie den Weißwurst-Äquator überquert, heizt das Ressentiment an, ist nicht zum Regieren geeignet und herrscht unumschränkt nur im Bierzelt.Aber genau da liegt seine Stärke: Aiwanger ist der beste Unterhaltungskünstler, den die CSU seit dem Tod von Franz Josef Strauß nicht mehr hatte. Nicht zufällig ist Aiwanger im Juni in Erding mit der Kabarettistin Monika Gruber aufgetreten. Markus Söder ist verglichen mit seinem Stellvertreter eine schwache Nummer, Aiwanger bietet immer die bessere Show, weil er gleichzeitig dafür und dagegen sein kann. Niemand kann besser schimpfen, keiner hat so drastische Sprüche. Das Problem ist, dass der Spaß längst aufgehört hat und der Bierzeltkönig das alles auch so meint.Placeholder infobox-1
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