„Links ist nicht woke“ von Susan Neiman: Rosa Luxemburg statt Barack Obama
Theorie Die Philosophin Susan Neiman will die Linken von den „Woken“ trennen und hält die Fahne der Aufklärung hoch. Ihr Unterfangen scheitert – aber was ist denn dann links?
Wo sind all die Linken hin? Philosophin Susan Neiman schaut versonnen in die Ferne
Foto: Marlena Waldthausen/Agentur Focus
Als im Mai 1789 in Versailles die Generalstände zusammentraten, kam es zu einer folgenschweren Entscheidung: Die traditionell Privilegierten setzten sich auf die eine Seite des Saals, die Vertreter des Dritten Standes auf die andere. Diese Sitzordnung wurde auch beibehalten, als die Nationalversammlung entstand, und so war die grundlegende politische Unterscheidung geboren: rechts und links, die Bewahrer und die Veränderer.
Seither sind viele Jahre vergangen, doch diese willkürliche Setzung macht jedem politisch Denkenden bis heute zu schaffen. Vor allem, weil sich unter dem Begriff „links“ so viel versammelt hat, dass sich niemand mehr zurechtfindet. Oder was haben indische Maoist:innen, deutsche Klimaschützer:innen und US-amerikanische Black-Lives-Matter-Ak
-Matter-Aktivist:innen gemein?Insofern ist das Vorhaben der in Deutschland lebenden US-amerikanischen Philosophin Susan Neiman verständlich: In ihrem Buch Links ist nicht woke will sie ihrem Unbehagen darüber Ausdruck verleihen, dass sie sich mit dem, was vielen als „links“ gilt, nicht identifizieren kann. Und dabei nicht nur sortieren und abgrenzen, sondern erarbeiten, was „links“ eben ist. Leider scheitert sie mit beidem.Die drei Kapitel ihres Essays, der auf einer Vorlesung beruht, die Neiman im April 2022 in Cambridge gehalten hat, entsprechen einem Vorgehen in drei Schritten: einer Verteidigung des Universalismus, der Gerechtigkeit und der Hoffnung auf Fortschritt. Damit verknüpft ist ein dreifacher Vorwurf an die „Woken“: dem Stammesdenken anheimgefallen zu sein und einem Machtbegriff und Menschheitsbild anzuhängen, die jeden Fortschritt negieren.Dass Identitätspolitik das Denken in Grüppchen befördert und Betroffenheits- und Sprechortparadigma den Prinzipien der freien Rede und Solidarität abträglich sind, ist keine neue Idee. Auch der Vorwurf, diese Linke beruhe implizit auf dem Denken Michel Foucaults, das letztlich reaktionär ist, ist nicht Neimans Patent.Susan Neiman in der Tradition der AufklärungDas größte Problem ist jedoch, dass Neiman hier gegen einen Gegner kämpft, den sie vollständig im Dunkeln belässt. Die „Woken“ tauchen hier nur als Token auf, als Strohmann – ohne auch nur ein Beispiel zu nennen, geht Neiman davon aus, dass man als Leser:in schon wissen wird, wen sie meint. Eine ans Raunen grenzende Taktik, die nicht nur politisch unklug, sondern vor allem intellektuell unredlich ist.Ihre eigene Vorstellung vom „Linkssein“ – und dass diese Bezeichnung mehr auf identitäre Selbstvergewisserung zielt als auf Gesellschaftskritik, sagt einiges – untermauert Neiman indes reichhaltig. Sie verortet sich in der Tradition der Aufklärung und der Menschenrechte. Der Liberalismus habe diese nur unzureichend umgesetzt, und der „woke“ Vorwurf, die Aufklärung sei verantwortlich für Kolonialismus und Rassismus, sei falsch. Ihre anschließende Verteidigung der klassischen französischen Aufklärer Voltaire, Diderot, Rousseau mag korrekt sein. Ihr geradezu ahistorisches Festhalten an den Werten der Aufklärung als einem Programm, das nur nicht korrekt umgesetzt wurde, irritiert allerdings – als wären diese Begriffe von jeglicher Geschichte unbefleckt. Diese Ignoranz zeigt sich besonders prägnant, wenn sie Foucault und Adorno als Aufklärungsverächter in einen Topf wirft und dabei den Unterschied zwischen Aufklärungskritik und Aufklärungsselbstkritik einebnet.Was Neiman nicht zu sehen scheint, ist, dass sie selbst dem Liberalismus verhaftet bleibt. „Linke“ Politik ist für sie nicht die radikale Veränderung der Gesellschaft, sondern die bürokratische Umsetzung eines Forderungskatalogs, den sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sieht. Sie behauptet zwar, die Bezeichnung „Sozialist“ rehabilitieren zu wollen, greift dann aber auf keine:n einzige:n sozialistische:n Denker:in zurück. Die Namen Engels und Marx kommen nur je einmal vor – in unbedeutenden Nebensätzen. Links, das ist für Neiman nicht Rosa Luxemburg, sondern Barack Obama, für dessen Präsidentschaft sie eine erstaunliche Begeisterung aufzubringen vermag.Kein Wunder also, dass sie letzten Endes in die selbst gestellte Falle tappen muss: Um die Hoffnung auf Fortschritt zu verteidigen, zählt sie Beispiele der jüngsten Geschichte auf – die allesamt liberalen oder identitätspolitischen Charakters sind: die Bürgerrechtsbewegung, die größere Zahl von Frauen in leitenden Positionen, die Enttabuisierung der Homosexualität. Das sind zweifellos wichtige Fortschritte – die jedoch problemlos in den Betriebsablauf des Kapitals integriert werden konnten.Dabei wäre es dringend nötig, sich über den Gehalt des Wortes „links“ zu verständigen. Das Problem, an dem auch Neiman vorbeiargumentiert, ist jedoch, dass fast alles, was heutzutage als links gilt, eine Spielart des Liberalismus ist. „Woke“ Politik – um diese wolkige Kategorie beizubehalten – beruht auf Voluntarismus und Anerkennung. Konkret: Feminismus ist nicht (mehr) der organisierte, praktische Kampf gegen patriarchale Herrschaft, sondern ins Individuum verlagertes Empowerment – womit auch Unterdrückungsformen plötzlich als emanzipatorisch erscheinen, solange man sich „freiwillig“ dafür entscheidet. Antirassismus wiederum ist nicht (mehr) der Kampf gegen die schreiende Armut rassifizierter Menschen, sondern die symbolische Umbenennung von Straßen und Plätzen. Das ist freilich stark vereinfacht, und es gibt viele feministische und antirassistische Bewegungen, die durchaus radikal auftreten – deswegen ist die unspezifische Verwendung des Begriffs „woke“ ja so fatal.Worum es gehen müsste, wäre ein linker Minimalkonsens, der sich tatsächlich vom Liberalismus abgrenzt – vom identitätspolitischen wie vom linken. Denn was letzterer, zu dem auch Neiman gehört, übersieht, ist, dass die Verwirklichung der Ideale der Aufklärung – die Gesellschaft der Freien und Gleichen – von der bürgerlichen Gesellschaft verhindert wird, weil sie das Privateigentum an den Produktionsmitteln zur Grundlage hat.Nun sind ganze Bibliotheken darüber geschrieben worden, was links ist – das zeigt nur, dass der Begriff eines vor allem nicht ist: statisch. Er ist, wie letztlich jeder Begriff, zeitbedingt zu bearbeiten. Das heißt nicht, dass er beliebig gefüllt werden kann – seine Bedeutungssedimente lassen sich nicht einfach vom Sturm der Geschichte davonwehen. Im Gegenteil, die Gedächtnislosigkeit ist neben dem Verlust der sozialen Frage als Bezugspunkt das vielleicht größte Problem der zeitgenössischen Linken.Insofern lässt sich der nötige linke Mindeststandard in zwei parolenartigen Sätzen festhalten: Kein Sozialismus ist auch keine Lösung. Und: Erinnern heißt kämpfen.Politik als kollektive PraxisDenn weder ein bewusstloses Aufwärmen marxistischer Kategorien, die von der Geschichte widerlegt wurden, noch deren kategorisches Verwerfen führen in eine bessere Gesellschaft. Am Sozialismus oder Kommunismus ist aus dem Grund festzuhalten, aus dem die Liberale Neiman an den Menschenrechten festhalten will: Ohne Hoffnung ist jeder Kampf sinnlos. Und die Erinnerung bewahrt nicht nur vor dem Wiederholen vergangener Fehler, sondern kann – als Arbeit, nicht als Ritual verstanden – jene neuen Positionen einschließen, die gemeinhin unter dem Label „woke“ firmieren.Dem Verbrechen der Sklaverei ist nicht nur zu gedenken, indem Straßen umbenannt und Denkmäler gestürzt werden – sondern indem die Nachfahren seiner Opfer, die mehrheitlich in Armut leben, bessere Lebensbedingungen erhalten. So wie die Shoah der Ausgangspunkt eines dissidenten linken Denkens nach dem Zweiten Weltkrieg wurde, das die Rolle von Staat und Antisemitismus reflektierte und daraus die Konsequenz der Solidarität mit Israel zog – in Verbindung mit einem Festhalten an materialistischer Gesellschaftskritik.Linkes Denken, das die Katastrophen der Vergangenheit nicht reflexiv in sich aufnimmt, ist genauso zum Scheitern verurteilt wie eines, das glaubt, ohne Marx auskommen zu können. Eine Linke, die das bedenkt, könnte zwei Problemen beikommen: Sie entginge der individualistischen Falle und könnte Politik als kollektive Praxis wiederentdecken, auch jenseits von Parteipolitik. Außerdem entkäme sie der Logik des Kulturkampfes, die ihr die Reaktion aufdrängt, und käme endlich wieder in ein Gespräch über die materiellen Ursachen des allgegenwärtigen menschlichen Leids.