Zum ersten Mal auf der Bühne und dann gleich doppelt: Sibel Kekilli liest Michel Friedmans „Fremd“
Foto: Moritz Haase
Mittig auf der Bühne steht, leicht schräg, ein weißes, flaches Podest. Teile von Stühlen sind auf dem Boden ringsum befestigt, als ragten sie aus einer schwarzen Masse. Auf dem Podest, im vorderen Eck: ein schwarzer Tisch mit transparentem Kunststoffstuhl; darauf eine dunkelgraue, schwarz gerahmte Scheibe, an deren Seiten Leuchtstäbe glimmen. Dahinter: eine Vorrichtung, die ein Smartphone auf Selfie-Höhe fixiert. Die Stimmung ist düster, Schwärze dominiert den Raum: Dies hier ist das Nirgendwo.
Schwarz ist auch das edle Kostüm, in dem Sibel Kekilli die Bühne im Neuen Haus des Berliner Ensembles betritt. Sie bleibt stehen, beginnt zu sprechen: Leicht modifiziert trägt sie die Widmung des Buches vor, um das es an diesem Abend geht. Kurz g
ht. Kurz gefasst: Dies ist ein Abend über das Fremdsein, gewidmet allen, die irgendwo im Nirgendwo leben. Kekilli setzt sich an den Tisch – und das Smartphone projiziert ihr Gesicht live in Übergröße auf die Leinwand hinter der Bühne. Dialektik der Verfremdung: Kekilli ist dem Publikum zugewandt, aber durch die Scheibe von ihm getrennt; durch das Video zugleich näher gebracht und entfernt. Die Handykamera überzeichnet und lässt ihr präzise geschminktes Gesicht merkwürdig konturlos erscheinen, lediglich ihre braunen Augen und die roten Lippen treten markant hervor.Sie beginnt zu lesen: „Ich bin auf einem Friedhof geboren.“ Die für den Abend gewählte Bezeichnung „inszenierte Lesung“ trifft es gut. Bis zum Ende wird Kekilli sich nicht von der Stelle bewegen, nur lesen. Die meiste Zeit wird sie dabei auf das Smartphone vor sich blicken, sodass ihr Gesicht eindringlich von der Leinwand direkt aufs Publikum gerichtet ist. Bisweilen jedoch verschwindet die Live-Projektion und stattdessen werden Videos gezeigt – Kekilli in mehrfacher Ausführung, wie sie suchend im Raum steht, aber auch historische Aufnahmen: Frankfurt in den 60ern; rassistische Pogrome in den 90ern.Ergänzungen und Stimmung, keine ErklärungenMichel Friedmans Buch Fremd, vergangenes Jahr im zu Piper gehörenden Berlin-Verlag erschienen, ist eine Art autobiografischer Gedichtessay. Ein persönliches und intimes Buch, in dem sich Friedman verletzlich und verletzt zeigt. Der Sohn zweier von Oskar Schindler geretteter Juden kam 1956 staatenlos in Frankreich zur Welt, sprach zunächst neben Französisch die Sprachen der Eltern, Polnisch und Jiddisch, bis die Familie nach Frankfurt zog – ausgerechnet ins Land der Mörder. „Das Kind“, wie Friedman sich in dem Text weitgehend selbst nennt, erfährt hier Ausgrenzung, Antisemitismus, Rassismus – und trägt schwer an den Traumata der Eltern, den Schuldgefühlen der Überlebenden, der Verzweiflung jener, deren gesamte Familie ermordet wurde.Das Kind, das nicht vergessen kann, sucht seinen Platz in einer Gesellschaft, die nur vergessen will. „Die kindliche Vorstellung von diesem Land: / Überall viele Gefängnisse, / mit vielen Verbrechern, / mit vielen Mitwissern.“ Doch es sieht ganz anders aus, das Kind wundert sich: „Der Wohlstand kroch aus allen Ritzen. / Die Menschen sahen aus wie / Menschen. /Menschen? / Unschuldig. / Sauber.“Beim Lesen entwickelt dieser stakkatohafte Text einen Sog, man wird mitgenommen in die Trauer und Suche nach Anerkennung und Freude dieses Kindes, Jugendlichen, Mannes. Der Inszenierung von Max Lindemann, der das Buch bereits als Hörspiel aufbereitet hat, gelingt es, dem Text zu seinem Recht zu verhelfen: alle inszenierenden Elemente sind zurückhaltend. Die Musik hat höchstens unterstreichenden Charakter, gewinnt niemals die Oberhand, betreibt keine übermäßige Emotionalisierung. Die im Hintergrund eingeblendeten Videos haben zwar mitunter den Effekt, etwas vom Zuhören abzulenken, bilden jedoch auch eine gelungene Ergänzung: keine Erklärung, keine Übertreibung, nur Stimmung.Eine Lanze für den UniversalismusUmso grauenhafter wirkt es, als die Bilder der Brandanschläge auf Flüchtlingsheime am Ende wieder auftauchen. So wird, ohne dass es ausgesprochen werden muss, klar: Dies ist ein Text über die Vergangenheit für das Jetzt. Hier arbeiten ein ehemaliger jüdischer Flüchtling und die Tochter zweier Arbeitsmigranten zusammen und erinnern Deutschland daran, dass es kein weltoffenes, friedfertiges Land ist. Die rassistischen Pogrome in den 1990ern führten zur zynisch „Asylkompromiss“ genannten Abschaffung des Grundrechts auf Asyl. 2023 braucht es derlei Ausschreitungen gar nicht mehr: über nahezu alle politischen Lager hinweg ist man sich einig, dass „in großem Stil“, wie Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete, abgeschoben werden muss. Die Parolen, die wie Friedman auch Kekilli in der Jugend zugesetzt haben dürften, sie sind längst Regierungspolitik.Kekilli, 1980 im württembergischen Heilbronn geboren, ist eine der bekanntesten deutschen Schauspielerinnen. Bekannt geworden 2004 durch Fatih Akins Gegen die Wand, hat sie seither mit Erfolg dafür gekämpft, nicht nur für Rollen von Deutschtürkinnen besetzt zu werden. Doch an diesem Abend über das Fremdsein in Deutschland ist implizit auch ihre Biografie präsent. Auch ohne ostentativ politische Pose ist diese Besetzung eine Absage an die Apologeten einer streng ausgelegten Sprechorttheorie, wonach jeder sich nur zu den eigenen Erfahrungen äußern darf. Dass hier eine junge Deutsche türkischer Abstammung den Text eines älteren jüdisch-deutsch-französisch-polnischen Mannes liest, bricht eine Lanze für den Universalismus. Diese Worte können für beide gelten: „‚Ausländer‘, / spuckt sein Mund mir tonlos ins Gesicht. / Ich spucke zurück. / Ich beuge mich nah an sein Ohr: / Bin ich Ausländer? / Inländer? / Wenn ich Inländer bin, / wer ist dann Ausländer? / Wenn ich dazugehöre, / wer gehört dann nicht dazu? / Wenn ich kein Fremder bin, / wer ist dann ein Fremder?“Der Text ist freilich gekürzt, bemerkenswerterweise vor allem um die hellsten und die dunkelsten Stellen: Momente, in denen es um zarte Freude und Lust geht; Passagen über Selbstmordgedanken, die Friedman offenbar über Jahre begleitet haben. Das verdichtet den Text, nimmt ihm aber auch einige Nuancen. Das Wesentliche bleibt jedoch: „ Lebenslang / ein Fremder. /In diese Welt geworfen, / als Fremder. / Aus dieser Welt geworfen, / als Fremder. / Dazwischen: / zappeln, / strampeln, / schuften, / um nicht ein Fremder zu sein.“Kekilli gibt mit Fremd übrigens ihr Theaterdebüt und man meint anfangs, zu merken, dass ihr diese Art des Schauspiels weniger vertraut ist: Ihre Art, vorzulesen, mutet etwas hölzern an, erst im Laufe der Zeit legt sie an Emphase zu. Dennoch trägt sie den Abend problemlos mit ihrer Präsenz – und erntet am Ende nicht nur stehende Ovationen, sondern auch eine feste Umarmung und einen Kuss auf die Stirn von Friedman. Und da scheint sich etwas zu lösen: sie lächelt, lacht, der Abend irgendwo im Nirgendwo ist vorbei.Placeholder infobox-1
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