Dramatik Seit Jahrzehnten verhandeln israelische Autor:innen den Umgang mit den Traumata der Shoah auf der Bühne. Durch das Pogrom vom 7. Oktober werden diese düsteren Erinnerungen wieder erweckt
Ob so der Engel der Geschichte aussieht? „Amsterdam“ von Maya Arad Asur am Jewish Cultural Center in Ljubljana, 2022
Foto: Asiana Jurca Avci
Im Kontakt mit israelischen Theaterschaffenden ist derzeit deutlich zu spüren, wie das Pogrom der Hamas am 7. Oktober 2023 massive soziale und politische Verunsicherungen und einen Moment des Schocks ausgelöst hat. Es weckt schlimmste Erinnerungen an vergangen geglaubte antisemitische Gewalt, wie sie in der Shoah kulminierte. Dazu trägt auch ein ansteigender, sich immer offener äußernder Antisemitismus einerseits, eine merkwürdige Distanz und Empathielosigkeit andererseits auch unter westlichen, sich links gebenden Künstler:innen und Intellektuellen bei.
Die Frage der sozialen und politischen Fortschreibung des Traumas der Shoah beziehungsweise der Retraumatisierung, die durch Kriege und Terror gegen Israel immer wieder ausgelöst wurde, ist für d
für das israelische Theater, wie für den gesellschaftlichen Diskurs insgesamt, zentral.So verwundert es nicht, dass Verhandlungen der Shoah im Theater über die Jahrzehnte immer wieder auch eine Reflexion aktueller politischer und gesellschaftlicher Diskurse bedeuteten, mit sich im Wechsel der Generationen wandelnden Perspektiven und Schwerpunkten. Zentrale Themen waren und sind dabei das Verhältnis zwischen „hier“ – der israelischen Gesellschaft – und „dort“ – Europa während der Shoah, in neueren Stücken aber auch der Gegenwart der ehemaligen Tatorte, etwa in Berlin, Warschau oder in Amsterdam (so der Titel eines in Deutschland in den letzten Jahren viel gespielten Stücks von Maya Arad Yasur) – sowie die erfahrene Gewalt und daraus folgende Traumatisierung der Überlebenden und der jüdischen Gemeinschaft, jüngst auch im Hinblick auf die transgenerationelle Weitergabe.Uraufführung im KriegWährend das Level der Bedrohung durch die islamistischen Morde vom 7. Oktober eine neue Qualität erhält, sollte man sich auch daran erinnern, dass schon 1947/48 die arabischen Staaten den UN-Teilungsplan ablehnten und den neuen Staat Israel umgehend mit der Absicht der Vernichtung angriffen. Noch im Unabhängigkeitskrieg wurde am 31. Mai 1948 Er ging durch die Felder von Moshe Schamir uraufgeführt. Das Stück spielt 1944 und führt unter anderem zwei Figuren ein, die den Nazis entkommen konnten: Mika, eine junge Frau, konnte als Waise über die Sowjetunion 1943 ins britische Mandatsgebiet fliehen; anhand ihrer einzelgängerischen Art wird im Stück ihre Traumatisierung nur angedeutet, als scheine eine tiefergehende Verhandlung zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Semyon hingegen kämpfte in Osteuropa als Partisan, doch seiner militärischen Erfahrung begegnen die „hier“ geborenen und aufgewachsenen „Sabres“ skeptisch, während beide Gruppen außerhalb des Theaters gemeinsam gegen die arabischen Angreifer kämpfen. Was wirklich „dort“, in der Shoah, an Gewalt geschehen ist und welche traumatischen Folgen dies hatte, wird kaum angedeutet.Dies entspricht einer Tendenz im jungen Staat, wo die Erzählungen der Überlebenden öffentlich noch kaum Präsenz hatten. In den 1950ern dominierte die Herausforderung des Staatsaufbaus und der Integration der Überlebenden der Shoah sowie Hunderttausender aus den arabischen und muslimischen Staaten vertriebenen Jüdinnen und Juden. Zunächst war die Suche nach Überlebenden zentral, die etwa Lea Goldbergs Die Schlossherrin von 1955 verhandelt. Für Filme über diese Zeit ist emblematisch, dass irgendwann, zumindest im Hintergrund, ein Radio läuft, in dem verlesen wird, wer neu im Land angekommen ist und wen sucht, in der Hoffnung, doch noch Familienangehörige wiederzufinden.Gesellschaftlicher Raum für die Traumata der Shoa-ÜberlebendenErst im Zuge des Eichmann-Prozesses 1961 traten Überlebende als Zeug:innen mit ihren Erinnerungen vor eine breite Öffentlichkeit. Damit entstand ein anderes Bewusstsein für die konkreten historischen Erfahrungen in der israelischen Gesellschaft. Uraufgeführt 1962, ist Kinder des Schattens von Ben-Zion Tomer nicht ohne den Eindruck der Zeugenaussagen im Prozess beziehungsweise diesen Moment eines öffentlichen Aussprechens und der Öffnung des gesellschaftlichen Raums für die Traumata der Überlebenden denkbar.Anhand der Figuren der Brüder Yoram, der 1943 als Jugendlicher aus Polen ins Land gelangen konnte, und Yanek, der im Aufstand im Warschauer Getto und bei den Partisanen gekämpft hat, sowie dessen Frau Helenka, die im Versteck überlebte, werden Schuldgefühle problematisiert und Traumatisierungen Überlebender tatsächlich zum Thema. Dazu tritt als Kontrast der Mann ihrer verstorbenen Schwester, Sigmund, der im Judenrat war, überlebt hat und, ebenfalls in Israel angekommen, von Erinnerungen und Schuldgefühlen heimgesucht wird. Tomer problematisiert hier auch die Frage, wer wie über welches Verhalten urteilen könne, der nicht selbst „dort“ gewesen sei.Auffällig ist an diesem und vielen anderen israelischen Stücken über die Shoah, dass ihr Spielort die israelische – oder manchmal auch europäische – Gegenwart ist. Nur selten wird versucht, Ausschnitte des historischen Geschehens während der Shoah direkt auf der Bühne zu zeigen; dies erfolgte insbesondere in detailliert recherchierten dokumentarischen Arbeiten der 1980er-Jahre wie Joshua Sobols Ghetto-Trilogie oder Motti Lerners Kastner. Die Vergangenheit bricht also zumeist in die Gegenwart ein, die Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlichen Trauma prägt die Stücke. Deutlich wird dies auch in A. B. Jehoschuas Eine Nacht im Mai von 1969, das kurz vor dem Sechstagekrieg spielt. Es ist bekannt, dass diesem massive Vernichtungsdrohungen gegen Israel von arabischer Seite vorausgingen, die die Traumata der Shoah aktualisierten; in der im Stück entstehenden Atmosphäre sind diese latent.Hanoch Levin inszeniert die Erfahrung grundloser GewaltViele Stücke von Hanoch Levin, dem wichtigsten israelischen Dramatiker des 20. Jahrhunderts, nehmen indes die Erfahrung grundloser, grausamer Gewalt und des ihr Ausgeliefertseins auf und schaffen für sie eine theatrale Form. Das Muster der Drohung prägt seine Dramaturgie: Jemand sieht sich Täter:innen gegenüber, die ihn bedrohen, er wurde als Opfer ausgesucht, hofft aber weiter, er könne deren Gewalt durch eigenes Verhalten abwenden, doch die Täter:innen spielen nur mit der Hoffnung und töten schließlich.Sein bekanntestes Stück, Das Kind träumt, erzählt die Fluchtgeschichte einer Mutter mit ihrem Kind vor Soldaten, die den Vater töten, zu einer Insel, die sie abweist, bis ins Land der toten Kinder, wo in der Uraufführung 1993 auf der Bühne ein Schienenstrang im Nichts endete. Nicht nur hier zeigt Levin Gewalterfahrung radikal aus der Perspektive derjenigen, die ihr ausgeliefert sind, meist schutzlos und ohne zu wissen, warum es sie trifft und wie sie dem begegnen könnten. Dass die Darstellung historischer, politischer Zusammenhänge fehlt, die als Begründung, Rationalisierung eines Gewaltgeschehens in der Wahrnehmung der Rezipient:innen herangezogen werden könnten, verstärkt diesen Eindruck der Grundlosigkeit.Intergenerationelle Weitergabe der TraumataDie Gewalt erscheint auch aufseiten der Täterfiguren als irrational, sie folgen ihren Impulsen und Begierden, momentaner Lust, aber keinen ideologischen Vorstellungen, ihr Handeln wird nicht historisch kontextualisiert. Gewalt offenbart sich so als Abgrund menschlichen Handelns. Dies erscheint als ziemlich genaue Übersetzung einer historischen Erfahrung aus der Shoah in ein die zwischenmenschlichen Beziehungsweisen auf ihr Elementarstes abstrahierendes Theater – eben auf Macht- und Lustverhältnisse, Gewaltanwendung und die Erfahrung des Ausgeliefertseins. Im Identifikationsmechanismus des dramatischen Theaters führt dies zugleich zu einer klaren Parteinahme für die Erfahrung der Opfer, ohne jegliches Abwägen von historisch bedingten Handlungsoptionen. Die Welt erscheint als grausam, und das ist in der Konsequenz von Levins Theater nicht immer einfach für die Zuschauer:innen.In den letzten Jahren geht es in israelischen Stücken verstärkt um die intergenerationelle Weitergabe von Traumata. So etwa in Hadar Galrons Monodrama Pfeifen, das auf eindrückliche Weise die Auseinandersetzung einer Frau der zweiten Generation mit der Bestimmtheit ihres Lebens durch die Erzählungen ihrer Mutter und das von der Gewalterfahrung der Shoah geprägte Verhalten der Eltern zeigt.Das Trauma der Shoah ist in der israelischen Gesellschaft und für jüdische Gemeinschaften weltweit nichts Vergangenes, es tradiert sich im kulturellen, sozialen Bewusstsein, auch durch gegenwärtigen Antisemitismus. Die Frage der Reaktualisierung des Traumas wird sich in zukünftigen künstlerischen Arbeiten sicher auch hinsichtlich des 7. Oktober 2023 wieder stellen.Placeholder authorbio-1
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