Der deutsche Antisemitismus wirkt weiter – auch in mir
Gewalt in Nahost Wer deutsch und nicht jüdischer Herkunft ist, sollte misstrauisch gegenüber den eigenen Meinungen zu den Themen Judentum und Antisemitismus sein. Warum ich eigentlich nichts zum Terror gegen Israel sagen wollte und es nun doch tue
„Israel“ steht auf Hebräisch neben dem entstehenden Herz
Foto: Dennis Ewert/Imago
„Kommst du mit zur israelischen Botschaft, Blumen ablegen?“, kurznachrichtet die Tochter. Endlich ein sinnvoller Vorschlag. Wir packen auch Kerzen und Streichhölzer ein und radeln an edlen Villen vorbei bis zur Polizeisperre. Das Gebäude in Berlin-Grunewald ist großräumig abgesperrt, aber auf der anderen Straßenseite, vor dem Tennisplatz, von dem pietätlos das Geräusch der Bälle herüberploppt, liegen ein paar Rosen, Sonnenblumen, ein schmuddeliger Teddybär. „Im Vergleich zur ukrainischen Botschaft ist das wenig“, befindet die Tochter enttäuscht. Auch Israel-Flaggen sind, anders als die blau-gelben, in der Stadt kaum zu sehen. Ich frage mich, ob Angst oder Antisemitismus ursächlich ist für die verhalten
tene Solidarität in unserm Land, in dem man sonst so gerne Haltung zeigt.Ich erzähle von einer muslimisch geprägten Person aus meinem Bekanntenkreis. „Juden müssen keine Steuern zahlen“, sagt sie neulich wie aus heiterem Himmel, als wir für eine Politik-Klausur üben. Woher sie das hat, weiß sie nicht mehr. „Krass“, meint die Tochter. Wir haben noch drei Kerzen übrig und machen damit einen Abstecher zum Treblinka-Mahnmal des ukrainischen Bildhauers Vadim Sidur am Amtsgericht Charlottenburg. Die Flammen gehen immer wieder aus, der Herbstwind bläst uns Tränen in die Augen.„Waren das die Nazis?“Zwei Frauen um die 70 nähern sich neugierig. Wollen wissen, was hier sei. „Die Skulptur erinnert an ein Konzentrationslager“, erkläre ich, „sie stellt übereinander gestapelte Körper dar. Treblinka war ein reines Vernichtungslager.“ Und halte das Streichholz erneut an den Docht. „Ja, es ist gerade eine schwere Zeit“, setzt die eine an zu einer Relativierung, „aber ...“ Sie zögert, da ich sie starr anblicke. Gehorcht nach stummem Kampf und lässt ihren Satz in der Luft hängen. „Waren das die Nazis?“, will die andere Frau wissen, mit einer vagen Geste zum Mahnmal. Mühsam unterdrücke ich eine unfreundliche Antwort. Nun muss Treblinka vielleicht nicht jede kennen, aber kann es wirklich sein, dass eine biodeutsche Person beim Wort „Konzentrationslager“ nicht automatisch an die Verbrechen des Nationalsozialismus denken muss? Wir haben doch eine Schulpflicht!„Ja, das waren die Nazis“, kommt die Tochter zur Hilfe. „Am Nahostkonflikt sind die Juden schon auch mit Schuld“, vollendet die Frau mit der Relativierungssucht nun doch ihr Ressentiment. Wie Markus Lanz, Richard David Precht und viele andere kriegt sie es einfach nicht hin, sich die eigenen Stereotype bewusst zu machen. Und sauber zu unterscheiden, zum Beispiel zwischen Israels Regierung und dessen Zivilgesellschaft. Auch für sie gibt es nur „die Juden“, und die, findet sie, „müssen auch mal endlich aufhören, Opfer zu sein.“ Das sei antisemitisch, halte ich dagegen. „Ich doch nicht!“, wehrt sich die Frau, „ich habe sogar jüdische Freunde – warum sollte ich etwas gegen Juden haben?“ „Weil das in uns allen steckt“, entgegne ich, „der Antisemitismus wurde jahrhundertelang in uns hineingestopft.“Die Versuchung, den Opfern die Schuld zu gebenWir streiten, und ich fühle – und es fühlt sich mies an –, dass Ähnliches auch in mir schlummern: Da ist so ein Vorbehalt, von dem ich weiß, dass er nicht erlaubt ist, dass er überhaupt nicht stimmt, der aber da nagt wie ein kranker Zahn; so ein „Sind sie nicht selbst schuld, so wie sie die Palästinenser behandeln?“ Die Versuchung, den Opfern die Schuld zu geben, dass sie angegriffen werden. Damit alles seine Ordnung hat. Damit das Schlimme nicht so schlimm ist. Damit es einen – und möglichst nur einen – Grund gibt. Damit man nichts fühlen muss. Damit man sich raushalten kann. Warum sollte ich davon frei sein?„Hast du das auch?“, frage ich die Tochter, als die beiden weitergezogen sind. Sie schüttelt den Kopf, ohne Vorwurf, und endlich, nach tagelangem Herumeiern, weiß ich, was ich zu tun habe: Eine Flagge muss her. Da ich mir aber nicht sicher bin, ob das anmaßend oder, rein rechtlich, erlaubt ist, frage ich einen befreundeten Rechtsanwalt. Der gibt grünes Licht.„Kannst du mir eine Israelfahne malen?“, bitte ich den zeichenbegabten Sohn. Er erklärt mich umgehend für verrückt: Auf keinen Fall wolle er von palästinensischen Terroristen ermordet werden.Irgendetwas muss ich sagen, aber ich habe Angst, dass es das Falsche ist„Ist doch nur für unsere Wohnungstür“, sage ich „und wir können ‚Solidarität mit den Menschen in Israel und Palästina‘ draufschreiben“. „Das ist denen egal!“, wendet er ein, „die Terroristen sind bis auf die Knochen antisemitisch!“Prompt stelle ich mir vor, wie ein mit der Hamas in Kontakt stehender Paketbote weitergibt, dass unsere Wohnung von der Landkarte verschwinden soll. „Aber so schlimm kann es doch nicht sein“, sage ich dann, zu seiner wie zu meiner Beruhigung. „Also, der Hass auf Israel ist unter Muslimen ist schon weit verbreitet“, meint er, „sieht man ja aktuell an den Pro-Palästina-Demos, die den Terror bejubeln“.Seltsam nur, dass von unserem eigenen, unserem deutschen Antisemitismus so wenig die Rede ist, gerade auch unter Protestanten, ohne die, als Mitläufer und Mittäter, der Holocaust kaum möglich gewesen wäre. Die üblichen Verdächtigen hatten, die erste Nachricht vom Terror war kaum eingeschlagen, ihre sauberen Statements parat. Und auch ich will nicht schweigen, denn Schweigen bedeutet Zustimmung. Ich muss also etwas sagen, aber ich habe Angst, dass es das Falsche ist. Dass ich unaufrichtig bin. Dass ich ungerecht werde denen gegenüber, die jetzt im Gazastreifen, hungernd und fliehend, um ihr Leben zittern, Verletzte notdürftig versorgen, Tote begraben, unter Terrorverdacht ihre Verluste betrauern. Und ich fürchte mich, selbstbezogen zu sein, setze zigmal an zu diesem Text, der unfertig bleibt.Vor langer Zeit war ich zu dem Schluss gekommen, dass ich, Enkelin von Mitläufern, Großnichte eines SS-Mannes, Mitglied der weiterhin latent antisemitischen evangelischen Kirche, zum Israel-Palästina-Konflikt keine Meinung äußere. Ich finde, es steht mir nicht zu. Vielleicht ist das feige, oder bequem, aber mir schien es, für mich, die einzige Möglichkeit, mich integer zu verhalten. Jetzt jedoch ist die Existenz des Staates Israel bedroht. Mit ihm verschwände die einzige Zuflucht, die Juden weltweit haben; auch wenn sie nie dorthin ziehen würden – sie könnten. Ich muss irgendetwas sagen, um mich mit dem Unheil nicht ungewollt gemein zu machen. Etwas, das kein Leid ausblendet oder, unbeabsichtigt, benutzt. Geht das überhaupt?Wir sind mitverantwortlich, dass Israel gegründet werden mussteSo wie meine wirren Gefühle nicht politisch sind, scheint mir auch die fortgesetzte Gewalt in Nahost nicht primär politische Ursachen zu haben. Vielleicht ist es ähnlich stellvertreterisch wie beim Tod eines Menschen oder bei einer Scheidung: Die Familie streitet ums Erbe, ums Geld, um die Kinder, während es eigentlich um etwas ganz anderes geht. Nämlich um immer neu gefütterten Schmerz, der umgehend in Wut transformiert wird, damit man ihn nicht mehr so ohnmächtig sinnlos fühlen muss, sondern etwas draus machen kann, und sei es, um sich zu schlagen. Und damit können dann Übelmeinende ihr Süppchen kochen.Während die Grausamkeiten voranschreiten, Gewalt Gegengewalt zeugt, und Gegengewalt Gegengegengewalt, undsoweiter bis ins Unendliche, reiben sich jene im Dunkeln, im Sichern die Hände: die die Waffen verkaufen, die um Macht pokern, die vom Sterben profitieren, die ihre unsauberen Spielchen spielen und dazu den Hass anderer aufeinander brauchen und schüren, sich daran labend.Zwischen Multikulti und SynagogeDas Mehrgenerationenhaus, wo ich den migrantischen Jugendlichen helfe, liegt zwischen einem jüdischen Altersheim und einer Synagoge. Tag und Nacht patrouilliert Polizei, man darf nicht parken, auch keine Räder abstellen, aus Sicherheitsgründen. Das erzähle ich der Person, die dachte, Juden würden bevorzugt behandelt. „Sie sind immer gefährdet“, erkläre ich, „sie haben sich das nicht ausgesucht. Aber Steuern zahlen sie wie alle anderen.“ Glaubt sie mir? Wird sie Misstrauen gegenüber Fehlinformationen entwickeln, so wie ich, als Deutsche, ein großes Misstrauen mir selbst gegenüber erlernen musste? Wer deutsch und kein Jude ist und Israel kritisiert, sollte sich dreimal überlegen, was er tut, sagt und fühlt. Es ist immer möglich, dass der schwelende Antisemitismus sein Wörtchen mitredet. Der wirkt umso beharrlicher, je weniger man sich eingesteht, dass er da lauert, in den Köpfen, in den Gefühlen. Unzweideutig muss sein: Israel ist ein besonderes Land, und wir Deutsche sind mitverantwortlich dafür, dass seine Gründung überhaupt nötig wurde. Wir müssen ihm beistehen.Denn jetzt ist jetzt. Und jetzt verüben Terroristen Verbrechen an Juden. Jetzt geht es erstmal darum, die Täter zu fassen, damit sie nicht noch mehr Unheil anrichten. Um die Ursachen kann man sich danach kümmern. Solidarität mit Israel heißt nicht, dass man die Unterdrückung der Palästinenser gutheißt. So wie es umgekehrt nicht illoyal ist, auf „Verhältnismäßigkeit“ zu dringen, so absurd das auch klingen mag angesichts des massenhaften, öffentlichen Tötens. Oder, sinnvoller noch, für humanitäre Hilfe in Gaza zu spenden. Das mit der Israel-Flagge diskutieren wir weiter. Es bleibt unbequem.
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