Amazons Strategie: Macht durch Infrastruktur

Big Tech Der Online-Gigant erzielt Rekordgewinne, während der klassische Einzelhandel am Lockdown verzweifelt. Amazon möchte seine Konkurrenz aber kontrollieren, nicht zerstören

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Amazon arbeitet beständig am Ausbau der eigenen Infrastruktur. Zur Zeit wird die Luftflotte vergrößert
Amazon arbeitet beständig am Ausbau der eigenen Infrastruktur. Zur Zeit wird die Luftflotte vergrößert

Foto: IMAGO / Peter Endig

Auf den ersten Blick sieht die Geschichte so aus: Amazon konnte im Corona-Lockdown liefern, während der stationäre Einzelhandel geschlossen war. Büroangestellte langweilten sich im Homeoffice und bestellten Paket um Paket, bis die Hauseingänge, Straßen und DHL-Shops vor Amazon-Lieferungen überquollen. Das bescherte dem Online-Händler ein Rekordjahr 2020 mit Gewinnen in Höhe von 21,3 Milliarden Dollar und Umsätzen in Höhe von 381,5 Milliarden Dollar weltweit, 38 Prozent mehr als im Vorjahr.

Wenn die Geschichte hier enden würde, wäre sie zu kurz erzählt. Amazons Erfolg im Corona-Jahr ist nur die Spitze des Eisberges. Er ist das Ergebnis einer Wachstumsstrategie, die auf Marktmacht zielt und dabei auf die Kontrolle von Infrastruktur setzt. Amazon möchte den klassischen Einzelhandel nicht in Grund und Boden konkurrieren, sondern ihn von dieser Infrastruktur abhängig machen. Ziel des Unternehmens ist es nicht, der größte Händler zu werden – sondern gleichbedeutend mit dem Markt für Online-Handel zu sein.

Unter Investoren war Amazon lange dafür bekannt, kaum oder gar nicht profitabel zu sein. Das seit 1997 an der Börse gehandelte Unternehmen verzeichnete erst 2003 überhaupt Gewinne. Umsätze sowie Einnahmen aus den Finanzmärkten wurden aggressiv in Kundenbindung und ein weitreichendes Netz von Logistik- und Datenzentren sowie Forschungsstandorten investiert. Der Schlüssel war es, Aktionäre davon zu überzeugen, trotz magerer Gewinne weiter zu investieren. Die Shareholder, darunter große institutionelle Investoren wie BlackRock oder Vanguard, stärkten dem Unternehmen den Rücken in Erwartung darauf, dass sich die Wachstumsstrategie durch die daraus gewonnene Marktmacht auszahlen würde.

Spätestens mit der Coronakrise ging das Kalkül auf. Ein stationärer Händler, der in den E-Commerce einsteigt, kommt kaum an Amazons Infrastruktur vorbei. Ebenso wenig wie ein Unternehmen, das eine Cloud-Infrastruktur benötigt. Mit anderen Worten: Die fetten Jahre haben für Amazon gerade erst begonnen. Das Unternehmen festigt mit weiteren Milliardeninvestitionen seine Stellung. Drei Infrastrukturnetze stechen dabei heraus – die Plattform für Dritthändler, das Logistiknetz, und die Cloud-Computing-Infrastruktur.

Amazon Marketplace – Plattform und Konkurrent zugleich

„Third-party sellers are kicking our first party butt”, „Dritthändler treten uns in den Ersthändlerarsch“, erklärte CEO Jeff Bezos 2019 in seinem Brief an die Amazon-Aktionäre. Er meinte damit, dass 58 Prozent der Umsätze auf Amazon von Dritthändlern erzielt wurden – also von unabhängigen Unternehmen, die Amazon als Plattform nutzen, um dort ihre Produkte zu verkaufen. Die Zahl dieser Dritthändler steigt kontinuierlich, seitdem Amazon 1999 sein Angebot mit dem „Marketplace“ für sie öffnete und ihre Artikel neben den eigenen anzeigt. Laut Bezos liegt der Anstieg schlicht darin begründet, dass seine Plattform den Dritthändler die attraktivsten Tools bietet, um Produkte erfolgreich online zu verkaufen.

Der Wettbewerbs-Unterausschuss im US-Kongress nahm für seinen umfassenden Untersuchungsbericht vom Oktober 2020 die „Big Tech“-Unternehmen Google, Apple, Facebook und Amazon unter die Lupe. Hier werden andere Gründe dafür genannt, dass weltweit inzwischen 2,3 Millionen Händler auf dem Amazon Marketplace verkaufen. 60 Prozent aller Online-Produktsuchen in den USA fangen auf amazon.com an. Die Plattform hat damit eine Stellung als „Gatekeeper“ im E-Commerce. 64 Prozent der US-Haushalte haben einen Amazon-Prime-Account, der kostenlose und schnellere Lieferung sowie Dienstleistungen wie etwa Videostreaming bietet. Diese Haushalte werden online kaum woanders kaufen: Während der durchschnittliche US-Konsument 600 Dollar im Jahr bei amazon.com ausgibt, sind es bei Prime-Mitgliedern 1.400 Dollar im Jahr. Der Untersuchungsbericht fand heraus, dass Amazon mit Prime seit Jahren riesige Verluste in Kauf nimmt, um mehr Kunden an die Plattform zu binden. Die in Prime beinhalteten Leistungen sind nach Schätzungen etwa 860 Dollar im Jahr wert, doch kosten Kunden nur 119 Dollar. Amazon lässt sich das Mitgliederprogramm jährlich ca. 1 Milliarde Dollar Verlust kosten.

Händler bekommen über Amazons Plattform Zugang zu weltweit hunderten Millionen von Kunden. Dafür begeben sich in Abhängigkeit des Online-Giganten. Für nach Schätzungen 37 Prozent der dort aktiven Dritthändler ist Amazons Marketplace die einzige Einnahmequelle. Um den Zugang zu ihren Kunden zu behalten, spielen sie nach den Bedingungen der Plattform. Und laut diesen gehen im Durchschnitt ca. 30 Prozent des Ertrags aus verkauften Produkten an Amazon – bei stark steigender Tendenz, 2015 waren es noch 19 Prozent. Die Höhe der Abgaben ist abhängig davon, ob zusätzlich zur Kommission Dienstleistungen wie Marketing oder Versand durch Amazon hinzukommen und kann laut „Forbes“ auf insgesamt bis zu 40 Prozent steigen. Für den Soziologen Philipp Staab sind solche Abgaben ein typisches Merkmal des digitalen Kapitalismus. Die großen Digitalunternehmen zielen nach seiner Analyse darauf ab, „proprietäre Märkte“ zu schaffen – Märkte, die mit dem Unternehmen identisch sind und auf denen Marktmacht kapitalisiert wird.

Nicht zu vergessen: Bei aller Profitabilität der Plattform ist Amazon selbst auch Händler. Dritthändler begeben sich auf dem Marketplace somit in die Nähe eines Konkurrenten. Laut einer Recherche des Wall Street Journal vom April 2020 benutzte Amazon Daten von erfolgreichen Dritthändlern, um daraus konkurrierende Produkte zu entwickeln. Gegenüber dem US-Kongress konnte Amazon Vorwürfe eines solchen Machtmissbrauches nicht ausräumen. Der Untersuchungsbericht listet Fälle auf, in denen Accounts von Händlern willkürlich gesperrt oder deren Produkte von der Angebotsliste genommen wurden. Letzte Hoffnung für betroffene Händler bliebe oft nur die „Jeff Bomb“ – eine E-Mail an Jeff Bezos, die den eigenen Fall darlegt, um den CEO zu einem wohlwollenden Eingreifen zu bewegen.

Fulfillment by Amazon (FBA) – Amazon als Logistikgigant

Amazon entwickelt sich gegenwärtig mit rasender Geschwindigkeit zu einem Giganten der Logistikbranche. Allein 2020 ist die Fläche der Logistik- und Versandstandorte des Unternehmens um 50 Prozent gestiegen. Mit der Größe dieser Infrastruktur wächst die Kontrolle über Händler, Zusteller, und Arbeitskräfte.

Mit Fulfillment by Amazon (FBA) können Händler Versand und Lagerung ihrer Produkte gegen eine Zusatzgebühr komplett von Amazon abwickeln lassen, 73 Prozent von ihnen nutzen diesen Service. Die Untersuchung des US-Kongresses zeigt, dass dies für viele der Händler auf dem Marketplace alternativlos ist. Denn die Nutzung von FBA ist demnach der einzige praktikable Weg, um Produkte im Rahmen von „Prime“ versenden zu können oder in der „Buy Box“ zu platzieren, über die der Großteil der Verkäufe bei Amazon generiert wird.

Als Amazon 1994 mit dem Versandhandel begann, setzte es auf die etablierten Zustelldienste. Seit einigen Jahren wird es jedoch selbst immer mehr als Zusteller aktiv. Laut einer Studie aus dem Jahr 2019 wird Amazon bis Ende 2022 mehr Pakete zustellen als FedEx oder UPS. Und umso mehr Amazon selbst erledigen kann, desto stärker werden die Zusteller vom Online-Giganten abhängig. Entsprechend nimmt der Anteil der Lieferungen über die Plattform „Amazon Flex“ zu, auf der Kleinstunternehmer um Aufträge konkurrieren.

Die Logistikbranche ist arbeitsintensiv. Wie die New York Times im November 2020 berichtete, hat Amazon weltweit 427.300 Mitarbeiter innerhalb von zehn Monaten eingestellt, also ca. 1.400 am Tag. Damit handelt es sich historisch um die mit Abstand größte Einstellungswelle eines amerikanischen Unternehmens – mitten in der Corona-Pandemie, durch die viele Menschen ihren Job verloren haben. In einigen Regionen der USA steuert Amazon auf ein Nachfragemonopol für Arbeitskräfte in der Logistikbranche zu. Und in ersten kleineren Städten der USA ist Amazon als Arbeitgeber so dominant, dass es wie eine Rückkehr der „company towns“ des späten 19. Jahrhunderts anmutet.

Als wichtiger Treiber für das Wachstum des Logistiknetzes gilt Dave Clark – ein detailversessener Logistik-Experte, der sich als Manager im Amazon-Führungsteam während der Corona-Krise profilieren konnte. Seine Beförderung zum „CEO Worldwide Consumer“ im Januar 2021 macht ihn hinter Jeff Bezos und dessen künftigen Nachfolger Andy Jessy zum drittmächtigsten Entscheider bei Amazon und unterstreicht die Bedeutung, die das Logistiknetzwerk für das Unternehmen hat.

Amazons Ambitionen in der Logistikbranche erklären Expansionen in neue Geschäftsfelder. Etwa eine Investition über 700 Millionen Dollar in den Tesla-Rivalen Rivian und eine anschließende Bestellung von 100.000 e-Vans bei diesem. Oder die Anschaffung einer Flugzeugflotte, die zuletzt um elf gebrauchte Boeing 737 vergrößert wurde und damit bis Ende 2022 auf 85 Flugzeuge anwachsen könnte. Auch Investitionen in die Erforschung von Drohnen und Lieferrobotern sind kein Gimmick eines exzentrischen Milliardärs, sondern konsequent für ein Unternehmen, das die Logistik der Zukunft kontrollieren möchte.

Amazon Web Services (AWS) – Amazon als Platzhirsch im Cloud-Computing

Die Liste der Kunden, die Amazon Web Services (AWS) allein 2020 hinzugewonnen hat, liest sich wie ein „Who is Who“ der internationalen Wirtschaft: BMW, JPMorgan Chase, Siemens Smart Infrastructure, Thomson-Reuters, Twitter. Sie mieten sich Zugriff zu AWS‘ Cloud-Computing-Infrastruktur, also online verfügbaren Speicherplatz, Rechenleistung oder Anwendungssoftware.

Die Nachfrage nach solchen Dienstleistungen wird auch unabhängig von Corona in den nächsten Jahren steigen. Aktuell werden in verschiedensten Wirtschaftssektoren Fortschritte bei Anwendungen Künstlicher Intelligenz erzielt, die dynamischen Zugriff zu Rechenleistung und Speicherplatz erfordern. Von Medizin, Agrarwirtschaft und autonomem Fahren bis hin zu den Bereichen der Sprach- und Bildverarbeitung oder der „Smart Home“-Anwendungen, in denen Amazon selbst aktiv ist.

Die für ein umfassendes Cloud-Computing-Angebot erforderliche Infrastruktur aus Datenzentren und Tiefseekabeln ist so kostenintensiv, dass sie sich nur riesige Unternehmen oder Staaten leisten können. Nach Einschätzung des US-Kongress befindet sich der Markt noch in Konsolidierung. AWS hat mit Microsoft Azure und Google Cloud Platform ernstzunehmende Konkurrenz. IT-Unternehmen außerhalb dieser Schwergewichtsklasse bleibt nichts übrig, als sich im Big-Tech-Ökosystem eine Stufe weiter unten ansiedeln und Dienstleistungen auf Basis der Infrastruktur der großen Player anzubieten (ein Beispiel hierfür wäre die Software AG aus Darmstadt).

Wer sich am oberen Ende der Nahrungskette befindet, steht hingegen nicht mehr zur Disposition. Als im Februar 2017 ein AWS-Server für vier Stunden ausfiel, kam es amerikanischen Internetnutzer so vor, als sei das Internet „kaputt“ – ca. 100.000 Websites waren beeinträchtigt oder offline. Weltweit nutzen etwa 6.500 Regierungsbehörden AWS. Selbst Amazon-Konkurrenten wie Netflix, Spotify oder Zalando kommen nicht an dessen Infrastruktur vorbei. Netflix, der größte Konkurrent von Amazon Prime Video, zahlt jährlich etwa 500 Millionen Dollar für AWS-Server. Fraglich ist, ob dem Streaming-Unternehmen im Falle eines Konflikts die „Jeff Bomb“ helfen würde. Auch Händler, Zusteller und Beschäftigte, die ihre Einkommen in von Amazon kontrollierten Märkten erzielen, werden sich auf Dauer nicht auf eine wohlwollende Machtausübung des Online-Giganten verlassen wollen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lion Hubrich

Big Tech erklärt

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