Lagune Mar Menor: Der Gestank nach verrottetem Fisch
Spanien Mittelmeer: Abfluss von Nitrat aus dem Gemüseanbaugebiet des Campo de Cartagena in die Lagune Mar Menor führt zu einer Umweltkatastrophe. Um das Ökosystem vor dem Kollaps zu bewahren, wird es per Gesetz zu einer juristischen Person erklärt
Bei dieser Demonstration im August 2021 war es noch eine Forderung, jetzt wird das Mar Menor tatsächlich eine juristische Person
Foto: Dima/Europa Press/Getty Images
Caroline Rivière ist eine selbstbewusste, resolute Frau. Doch wenn sie über den 12. Oktober 2019 spricht, dann füllen sich ihre Augen mit Tränen. „Ich leide am psychoterratischem Syndrom“, erklärt sie. Glenn Albrecht, ein australischer Nachhaltigkeitsforscher, prägte den Begriff 2005, um der Verbindung zwischen dem Zustand unserer Umwelt dort, wo wir leben, und unserer psychischen Gesundheit einen Namen zu geben. Die 52-jährige Rivière wohnt in San Pedro del Pinatar, einem spanischen Küstenort im Norden des Mar Menor, einer der größten und einzigartigsten Salzwasserlagunen Europas.
Carole, wie sie ihre Freunde nennen, leidet, weil das Mar Menor leidet. „In der ganzen Stadt breitete sich am Vormittag des 12. Oktober 20
Oktober 2019 ein ganz fürchterlicher Gestank nach verfaultem Fisch aus.“ Von einer Freundin erfuhr sie hinterher, dass schon am Vorabend Fische und Aale im Todeskampf aus dem Wasser gesprungen waren, weil sie dort keine Luft mehr bekamen. Als Caroline Rivière dann die ersten Bilder in den Fernsehnachrichten sah, war sie erschüttert. Der Geruch von totem Fisch hing noch wochenlang über Straßen und Plätzen. „Ich fühlte mich schuldig. Wissenschaftler und Umweltschützer hatten seit vielen Jahren vorausgesagt, dass so etwas passieren würde.“ Tage vor dem verheerenden Fischsterben spülten besonders heftige Niederschläge in kurzer Zeit große Nitratmengen von den Feldern des angrenzenden Campo de Cartagena, einem riesigen Revier für den Gemüseanbau, in die Lagune. Dies führte zu einer Überdüngung (Eutrophierung) des Gewässers durch eine starke Anreicherung mit Nährstoffen und zu einem dadurch ausgelösten akuten Sauerstoffmangel. Tonnen toter Fische und Krebse säumten die Strände. Im Sommer 2021 sollte sich das Umweltdrama wiederholen. Diesmal war der Auslöser eine Hitzewelle, und die Bilanz fiel noch verheerender aus. Schon 2016, als sich das Mar Menor in eine „grüne Suppe“ verwandelt hatte, weil sich Algen stark vermehrten, gab es Anzeichen dafür, wie es um dieses Ökosystem stand. Doch erst das Massensterben von Fischen rüttelte 2019 die Region wie ganz Spanien auf.Ein Gesetz soll nun für Abhilfe sorgen und lässt hoffen, dass nach Jahrzehnten der Untätigkeit die Zerstörung der Lagune ein Ende nehmen könnte. Mehr denn je gilt die Landwirtschaft als Hauptverursacher für den schlechten Zustand des Mar Menor. Also verlieh im Herbst 2022 die spanische Regierung der Lagune als erstem Ökosystem der Europäischen Union den Status einer juristischen Person. „Das bedeutet, die Lagune hat Rechte und kann diese einklagen. Sie ist damit auf Augenhöhe mit denen, die sie verschmutzen, etwa den Landwirten“, beschreibt der Umweltanwalt Eduardo Salazar den Unterschied zur bisherigen Gesetzgebung. Diese habe versagt, weil die Regionalregierung nur halbherzig agierte. Nach dem neuen Gesetz kann nun jede Person im Namen der Lagune vor Gericht klagen. So viele SeepferdchenIm Gebiet des Campo de Cartagena, das direkt an das Mar Menor angrenzt, generiert der Gemüseanbau 37 Prozent des Bruttoinlandsprodukts einer Region und sichert Zehntausende von Arbeitsplätzen. Das war nicht immer so. Traditionell bauten die Landwirte auf überwiegend trockenen Böden Getreide, Mandeln und Oliven an. Für den Trockenfeldbau waren zudem Terrassen angelegt, die Wasser zurückhielten. In den 1980er Jahren wurden sie eingeebnet, nachdem der Bau des Tajo-Segura-Kanals eine Bewässerungslandwirtschaft ermöglichte. Von da an gelangte überschüssiges Wasser ins Mar Menor. Der entstehende Intensivanbau verwandelte das Campo de Cartagena in Europas Gemüsegarten, ein ökonomischer Aufstieg sondergleichen. Die Schattenseite spiegelt sich im Zustand des Mar Menor, das seither einem immer höheren Nitratzufluss ausgesetzt ist. Hinzu kommt der Salzgehalt des Grundwassers, das behandelt werden muss, bevor damit bewässert werden kann. So entstehende Salzlaugen landen ebenfalls im Meer, sehr zu dessen Schaden.Einst wimmelte es im kristallinen Wasser nur so von Seepferdchen. Caroline Rivière erzählt, wie sie hier ihre Sommerferien verbrachte. „Es gab so viele Seepferdchen, dass ich es irgendwann satthatte, mit ihnen zu spielen“, erinnert sie sich. Der heute 20-jährige Sohn habe hingegen beim Tauchen noch nie welche beobachtet. Ihre Artenvielfalt hatte die Lagune einst einem besonderen Salzgehalt und dem Phytobenthos zu verdanken, den am Meeresboden siedelnden Algen. Die bewirkten als wichtiger Bioindikator – so der Ökologe Miguel Ángel Esteve Selma –, dass die Lagune über Jahrzehnte hinweg mit einem übermäßigen Nitrateintrag fertig wurde – bis das Ökosystem überfordert war. Durch zu viele Nährstoffe breiteten sich Algen in den oberen Wasserschichten aus, die so immer trüber wurden. Durch den Lichtmangel starben 85 Prozent des Phytobenthos aus. Die Resilienz des Mar Menor ging verloren. „Heute ist die Lagune sehr fragil. Selbst bei geringerem Nitrateintrag sind größere Schäden die Folge“, sagt Julio Más, ehemaliger Direktor des Meeresforschungsinstituts in Murcia. Aber noch gibt es Hoffnung, dass die Lagune zumindest teilweise wieder ihren früheren Zustand erreicht. „Dafür müssen freilich all die Maßnahmen und Gesetze, die in den vergangenen Jahren beschlossen wurden, auch umgesetzt werden“, so Julio Más. Mit einem Stock reißt die Chemieingenieurin Rocío García den grünen Algenteppich auf, der links und rechts eines Kanals den Strand überdeckt. Eine schwarze, übelriechende Masse kommt zum Vorschein. „Das ist totes Algenmaterial, das von Bakterien zersetzt wird, die Schwefel freisetzen“, erklärt García, die sich energisch für die Rettung des Mar Menor einsetzt. Weite Strandzonen sind von dem Phänomen betroffen. Baden sei dort nicht ratsam, meint Rocío García, auch wenn die stinkende Masse regelmäßig abgebaggert und in Containern abtransportiert werde.Agenda PachamamaDie Folgen dieser Verschmutzung sind im angrenzenden Ort sichtbar, in dem viele Häuser zum Verkauf stehen. Die Algenpest vertreibt mittlerweile immer mehr Touristen. Als die Lagune 2019 zu kippen begann, protestierten gut 50.000 Menschen. Landesweit wurde über das Desaster berichtet. Danach sei wieder nichts passiert, so Rocío García. Über Facebook habe sie Caroline Rivière und andere Gleichgesinnte kennengelernt, die nicht länger nur zusehen wollten. „Wir dokumentieren illegale Wassereinleitungen und nehmen Wasserproben. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Anzeigen ich inzwischen erstattet habe.“ Rocío García ist eher skeptisch, ob der neue Status dem Mar Menor noch helfen kann. „Jetzt haben wir dieses Gesetz, aber das Mar Mentor wird weiter verschmutzt.“Damit der neue Status des Mar Menor anerkannt wird, ist politischer Druck vonnöten. Die Rechtsphilosophin Teresa Vicente von der Universität Murcia ist die Autorin des Gesetzestextes, dem das spanische Parlament am 21. September 2022 mit großer Mehrheit zugestimmt hat. Bevor das Gesetz greift, fehlt allerdings noch eine Verordnung, die festlegt, wie die gesetzlichen Vertreter des Mar Menor zusammengesetzt sind. „Wir sind auf einem guten Weg“, ist Vicente zuversichtlich. Denn immer mehr gewinne eine ökozentrische Konzeption des Rechts an Zuspruch. „Bisher stand der Mensch im Mittelpunkt der Rechtsordnung, die nun um die Umwelt erweitert wird“, betont sie. Die Entwicklung des modernen Rechts sei im 20. Jahrhundert mit der Inklusion neuer Subjekte in die Rechtsprechung einhergegangen, die zu Rechtssubjekten wurden. Teresa Vicente: „Die Fortsetzung dieser Logik bedeutet, die Natur als legales Subjekt anzusehen, was im Rechtsbereich aber zu massiven Debatten und Herausforderungen führt.“Federführend dabei sind nicht westliche, sondern Staaten, in denen indigene Gesellschaften leben. Als erstes Land verankerte Ecuador 2008 die Rechte der Natur – zum Ausdruck gebracht durch das „Konzept Pachamama“ (Mutter Erde) des Quechua-Volkes – in der Verfassung. In Neuseeland fanden nach Jahrhunderten kolonialistischer Unterdrückung die Lehren der Māori 2016 Berücksichtigung, als dem Fluss Whanganui Persönlichkeitsrechte verliehen wurden. In Ecuador wurden über 40 Klagen im Namen der Natur erhoben, die Hälfte davon gewonnen. „Leider führt dies nicht immer zu einer messbaren Verbesserung des Wohlbefindens der Natur“, schreiben die beiden Juristinnen Laura Burgers und Jessica den Outer in ihrem Buch Das Meer klagt an!. Ecuador ist nach wie vor von der Rohstoffindustrie abhängig, die Verfassungsänderung hat die Umweltbedingungen nicht wesentlich verbessert, so das ernüchternde Fazit. Die Zeit wird zeigen, ob die Persönlichkeitsrechte des Mar Menor die Lagune wirklich retten können.
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