Viel Lärm um nichts

Sommerloch Die Pariser haben sich kollektiv in den Urlaub verabschiedet. Zurück bleiben Touristen und Clochards. Von einer Stadt, die unter der Abwesenheit ihrer selbst leidet...

Jedes Jahr im Sommer, so scheint es, verfällt Paris in einen kollektiven Trancezustand, in einen Winterschlaf mitten im August. Journalistenkollegen beklagen die mangelnde 'actu' und berichten stattdessen über die alljährlich an den Seine-Ufern künstlich geschaffene Strandpromenade "Paris Plage", über angesagte, sommerliche "places-to-be" oder den Spritpreis.

Gut, dass uns in der letzten Woche doch noch ein paar Schlagzeilen erreicht haben: jugendliche Randalierer in Amiens! Räumung von Roma-Lagern in der Nähe von Lille! (Unter der nunmehr sozialistischen Regierung, die noch im letzten Sommer lautstark Sarkozys Vertreibungspolitik verurteilt hatte!)

Was den gemeinen Pariser indes wirklich umtreibt, sind die Wassertemperaturen an der Côte d'Azur, der Austernpreis im Becken von Arcachon oder die Algenplage in der Bretagne, denn dorthin, an die Extremitäten des Hexagon, flüchtet, wer auf sich hält. Ob ins familieneigene Landhäuschen oder auf einen der angesagten Luxuscampingplätze mit Strandzugang.

Gerangel vor dem Supermarkt

Paris gehört in der Zwischenzeit den Touristen. Nicht ganz! Denn bei einem Spaziergang auf dem Boulevard Ménilmontant (aber wer geht hier schon spazieren?) treffe ich auf Frauen und Männer, die Gemüse und Fleisch für ein paar Cent verkaufen. Die gleichen Männer und Frauen, die ich am Vortag vor dem Supermarkt gesehen hatte. Als ich an der Kasse stand und bezahlen wollte, gab es vor der gläsernen Schiebetür plötzlich ein großes Gerangel. Einen Augenblick lang schauten alle Kunden nach draußen. Dort waren soeben die Überreste des Tages in den Mülltonnen gelandet und ein dutzend Hände rang und schlug sich um die halb verfaulten Salatköpfe, abgelaufene Hühnchenfilets und vertrockneten Brote. Nach ein paar Sekunden hatte man sich an der Kasse wieder gefasst, die Tür schob sich zu. Der Blick fiel auf die aktuelle Ausgabe des Le Parisien - Wahnsinn ! Hitzerekord in der Hauptstadt ! Titelfoto, planschende Menschen im Brunnen vor dem Eiffelturm!

Ja, Paris leidet unter der Hitze. Vor allem aber leidet Paris unter der Abwesenheit jener Pariser, die sich in ihrer bourgeoisen Selbstbespiegelung gefallen, die auf Fotos gut aussehen, die über ihren neuesten Film, ihr neuestes Buch oder die soziologische Tendenzen parlieren können. Jene eitlen Politiker-Eliten, die in der Nacht des 6. Mai auf dem Place de la Bastille skandiert haben "Der Wandel beginnt jetzt", genau wie jene, die ihre Macht abgeben mussten und nach der Sommerpause eifrig damit beginnen werden, interne Hahnenkämpfe auszutragen. Fast scheint es so, als leide Paris unter der eigenen Abwesenheit und pfeifend fährt man durch die leergefegten Straßen und summt: "Wenn ich nicht hier bin, bin ich auf'm Sonnendeck." La vie est une longue fleuve tranquille...

Lautstarke Clochards

Die Stille ist wohl am Ende der Grund, warum man im Pariser Sommer so leidet. Habe ich zumindest gemeinsam mit den beiden Clochards festgestellt, die seit ein paar Tagen vor meinem Haus schlafen. Weil der permanente Autolärm ausbleibt, fällt es schwer, uns auf einen für beide Seiten akzeptablen Lautstärkepegel zu einigen. Aber irgendwie kann ich ihnen das unablässig dudelnde Kofferradio nicht übel nehmen! Schließlich hört man selten so wenig schlechte Nachrichten wie jetzt, wo doch alle am Strand liegen und in der letzten Buchempfehlung aus Le Monde littéraire blättern. Nein, am besten schreibt und redet es sich am Ende doch über den kollektiven Pariser Sommerschlaf, über das Wetter und die steigenden Spritpreise.

Alles andere wäre, mit Verlaub, viel Lärm um nichts.

Romy Straßenburg (www.junds.eu) ist Freie Journalistin in Paris

Andreas B. Krueger (www.andreasbkrueger.com) ist Fotograf und Kameramann in Paris und Berlin

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Geschrieben von

Romy Straßenburg

Lebt als freie Journalistin in Paris. Ihr Buch "Adieu Liberté - Wie mein Frankreich verschwand" ist im Ullstein-Verlag erschienen.

Romy Straßenburg

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