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Kommentar Angesichts der zunehmenden Forderungen nach staatlicher Überwachung stellt sich die Frage nach dem Selbstverständnis der Post-Corona-Gesellschaft

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Mit der Forderung nach digitaler Überwachung wird am Grundgerüst der freiheitlichen demokratischen Ordnung gerüttelt
Mit der Forderung nach digitaler Überwachung wird am Grundgerüst der freiheitlichen demokratischen Ordnung gerüttelt

Foto: Gabriel Bouys/AFP/Getty Images

Immer vehementer wird von immer mehr Seiten der Zugriff auf digitale Daten unterschiedlichster Art gefordert, um die derzeitige Pandemie effektiver bekämpfen zu können. Die Frage, die sich in Reaktion darauf stellen sollte, ist nicht zuerst die nach der Erfolgswahrscheinlichkeit, sondern die nach den grundsätzlichen Implikationen eines solchen Vorgehens.

Während das Robert-Koch-Institut in Zusammenarbeit mit dem Heinrich-Hertz-Institut an einer datenschutzkonformen Lösung arbeitet, die auf Freiwilligkeit setzt, prescht etwa der CDU-Wirtschaftsrat voran und verlangt nach oktroyierter staatlicher Überwachung. Prominentester Befürworter dieser totalitären Methode ist Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der jüngst damit scheiterte, die Möglichkeit zur Handyortung und Standortverfolgung im Infektionsschutzgesetz festschreiben zu lassen. Die technischen Möglichkeiten dafür sind unbestreitbar gegeben: Mit dem Smartphone tragen bereits jetzt die allermeisten Menschen in Deutschland das ideale Datensammelgerät mit sich herum. Viele nutzen bereits Standortdienste und lassen individuelle Bewegungsprofile erstellen, die sie mit Firmen wie etwa Google teilen. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen bereits jetzt existierenden Profilen und der geforderten staatlichen Überwachung liegt dabei klar auf der Hand: Heute liegt die Entscheidung darüber, mit wem welche Daten geteilt werden, ganz in der Hand der Person, von der die Daten stammen. Bei Implementierung staatlicher Überwachung wäre dieses grundlegende Selbstbestimmungsrecht faktisch aufgehoben – der Staat würde sich mit diesem Schritt den Zugriff auf persönliche Daten sichern und das Individuum seines diesbezüglichen Selbstbestimmungsrechts berauben.

Zu thematisieren ist in dieser Hinsicht nicht in erster Linie die Nützlichkeit eines solchen Vorgehens. Ein Blick nach Südkorea lässt zumindest vermuten, dass die strikte Bewegungskontrolle bei Identifikation und Isolierung möglicherweise Betroffener durchaus nützlich sein kann. Aus einer utilitaristischen Perspektive heraus könnte die Überwachung zunächst also durchaus geboten scheinen: Der Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht von Millionen Menschen sorgt für den effektiven Schutz ebendieser Menschen und verhindert manchen potentiellen Todesfall. Eine solche Perspektive ist jedoch verengend, unterschlägt sie doch das grundsätzliche Staats- und Menschenverständnis, das hinter einer jeden Forderung nach Überwachung aus Schutzgründen steht. Getragen werden all diese Forderungen nämlich vom Gedanken des paternalistischen Staates. Vor dem Hintergrund eines solchen Staates müssen die Bürger*innen als unmündig, gewissermaßen als nicht zur Selbstbestimmung fähig verstanden werden. Genau dieses Bild ist es, das Spahn und Co derzeit vermitteln: Unmündige, der Selbstbestimmung nicht fähige Wesen müssen gewissermaßen vor sich selbst geschützt werden, indem der paternalistisch verstandene Staat sie überwacht.

Ein solches Verständnis kollidiert freilich mit einigen im Westen verbreiteten (ethischen) Prämissen. Seit der Aufklärung wird der Mensch als mündig und vernunftbegabt, als fähig, frei über sich selbst zu bestimmen, verstanden. Ferner – und das ist Prämisse des vorliegenden Artikels – ist der Mensch dem allgemeinen Verständnis zufolge im Besitz seiner selbst. Jedes Individuum gehört sich und ist damit in der privilegierten Position, autonom über sich entscheiden zu können. Diese Grundsätze sind (in eingeschränkter Form) Teil des Grundkonsenses der sich als frei verstehenden westlichen Gesellschaften. Dass genau diese Grundsätze jedoch bereits durch basale staatliche Tätigkeit konterkariert werden, steht außer Frage, soll jedoch nicht Gegenstand dieses Artikels sein.

Zu diskutieren steht also in erster Linie das Selbstverständnis der künftigen Post-Corona-Gesellschaft. Mit der Forderung nach digitaler Überwachung wird am Grundgerüst der freiheitlichen Organisation der westlichen Gesellschaft, am ihm zugrundeliegenden Menschenbild und auch an der Positionierung des Staates in dieser Gesellschaft gerüttelt. Wer Sicherheit über Freiheit stellt und oktroyierte Überwachung als legitime Möglichkeit der Staatsmacht versteht, stellt sich gegen das freie Individuum, stellt sich gegen ein umfassendes Selbstbestimmungsrecht und stellt sich damit letztlich gegen grundlegende Stützpfeiler der Gesellschaftsorganisation, die wir kennen. Wer ein staatliches Recht auf Überwachung gesetzlich verankern will, agiert im gleichen Geiste wie ein Viktor Orbán, der die derzeitige Krise in gleichem Sinne nutzte, um freiheitlich-demokratische Grundrechte außer Kraft zu setzen und eine neue, eine weniger freie Gesellschaftsordnung zu etablieren.

Auch Einschränkungen, Beteuerungen etc. ändern nichts an dieser grundsätzlichen Unvereinbarkeit. Wer wie Andrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung also eine kontrollierte, temporäre Überwachung fordert, demonstriert letztlich nur das Unverständnis für die Unmöglichkeit des Kompromisses. In einer Gesellschaft, die konsequent auf dem dargelegten Menschen- und Weltbild bauen will, müssen jegliche ergriffenen Maßnahmen auf Freiwilligkeit und Selbstbestimmung des autonomen Individuums gründen – ausnahmslos.

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