Ökonom Patrick Kaczmarczyk: „Schon einmal diente Inflation als Vorwand für Sozialabbau“
Im Gespräch Patrick Kaczmarczyk ist Politökonom und arbeitet seit Jahren in der Entwicklungsberatung. Er fordert, den gegenwärtigen „Ego-Kapitalismus“ durch Rückgriff auf die christliche Soziallehre zu überwinden
Patrick Kaczmarczyk über die Politik der konservativen Parteien: „CDU und CSU machen derzeit Opposition gegen das Christentum“
Foto: Alexander Anufriev für der Freitag
Ungleichheit, Umweltzerstörung, Kriege: Die Folgen des neoliberalen Wirtschaftssystems treten immer sichtbarer zutage, trotzdem halten viele Menschen ganz unbeirrbar daran fest. Der Entwicklungsökonom Patrick Kaczmarczyk erhebt Einspruch dagegen, dass der real existierende Kapitalismus alternativlos sei und dass die Argumente für ihn überzeugten. Kaczmarczyks Buch Raus aus dem Ego-Kapitalismus. Für eine Wirtschaft im Dienste des Menschen ist am 18. September im Westend Verlag erschienen.
der Freitag: Herr Kaczmarczyk, Ihr neues Buch heißt „Raus aus dem Ego-Kapitalismus“. Gibt es denn einen Kapitalismus ohne Ego?
Patrick Kaczmarczyk: Für mich ist der „Ego-Kapitalismus“ eine rücksichtslose Verfolgung von kurzfristigen Eigeninteres
eltzerstörung, Kriege: Die Folgen des neoliberalen Wirtschaftssystems treten immer sichtbarer zutage, trotzdem halten viele Menschen ganz unbeirrbar daran fest. Der Entwicklungsökonom Patrick Kaczmarczyk erhebt Einspruch dagegen, dass der real existierende Kapitalismus alternativlos sei und dass die Argumente für ihn überzeugten. Kaczmarczyks Buch Raus aus dem Ego-Kapitalismus. Für eine Wirtschaft im Dienste des Menschen ist am 18. September im Westend Verlag erschienen.der Freitag: Herr Kaczmarczyk, Ihr neues Buch heißt „Raus aus dem Ego-Kapitalismus“. Gibt es denn einen Kapitalismus ohne Ego?Patrick Kaczmarczyk: Für mich ist der XX-replace-me-XXX8222;Ego-Kapitalismus“ eine rücksichtslose Verfolgung von kurzfristigen Eigeninteressen. Das sehen wir auf der Mikroebene, wenn es heißt: „Jeder ist seines Glückes Schmied“, oder wenn immer wieder auf Eigenverantwortung gepocht wird. Auf der Makroebene wird es sichtbar, wenn man sich anschaut, wie Staaten miteinander umgehen. Dass Staaten ihre Eigeninteressen verfolgen, ist jetzt aber kein Phänomen der jüngsten Gegenwart.Nein, aber es geht um eine klügere Wahrnehmung und Verfolgung von Eigeninteressen, die auch die Interessen anderer Staaten berücksichtigt. Anders ausgedrückt: Man darf seine eigenen Probleme nicht zulasten anderer Staaten lösen oder meinen, die Probleme der anderen gingen uns nichts an. Nehmen wir mal das Beispiel Deutschland: Wir exportieren uns aus Krisen, exportieren unsere Arbeitslosigkeit in andere Länder, akkumulieren riesige Leistungsbilanzüberschüsse und wundern uns dann, dass in den USA Protektionismus oder in anderen Ländern Europas Populismus hochkommt. Eine solche Politik schadet uns langfristig selbst. Wo verläuft der Übergang zwischen dem klassischen Kapitalismus und dem „Ego-Kapitalismus“?Genaue Trennlinien gibt es zwischen den beiden nicht. Wir sind in den letzten 40 Jahren allerdings bei einem Extrem, angesichts dessen eine Kurskorrektur definitiv notwendig ist. Es fällt auf, dass sich der Neoliberalismus und der „Ego-Kapitalismus“ sehr ähnlich sind. Wie hängen die beiden zusammen? Man kann sagen, dass der Ego-Kapitalismus das Ergebnis des Neoliberalismus ist: Eine rücksichtslose Verfolgung von Eigeninteressen wird zum wirtschaftspolitischen Programm. Ideologische Systeme wie der Neoliberalismus schaffen es, dass sich Ideen oder Narrative in den Köpfen der Menschen verankern. „Jeder kann schaffen, was er will“ ist ein gutes Beispiel dafür. Wie funktionieren diese Prozesse des Verinnerlichens? Seit ich im politischen Umfeld arbeite, merke ich deutlich, dass es nicht auf empirische Erkenntnisse ankommt. Es gibt Gruppen, die materielle Interessen haben und diese knallhart verfolgen. Und zur Verfolgung dieser Interessen braucht man Storys oder narrative Bilder. Die werden endlos wiederholt, bis sich das Mantra so sehr in den Köpfen der Menschen verfestigt hat, dass das Interesse einiger weniger zum Allgemeininteresse wird. Das geht über viele verschiedene Kanäle, mit denen Meinungsmache betrieben wird. Man kauft sich Stiftungen, organisiert Verbände oder finanziert eine mächtige Springer-Presse. Debatten drehen sich dann um Meinungen und Empfindungen, ohne empirische Basis. Es ist sehr schwer, dagegen zu argumentieren, weil es eben in erster Linie nicht mehr um Fakten geht. Nehmen wir das Beispiel des „faulen Arbeitslosen“: Ich habe selbst zum Arbeitsmarkt publiziert, und wir haben in unseren Arbeiten gesehen, dass es dieses Stereotyp empirisch nicht gibt. Im Gegenteil: Arbeitslose hatten mit den Selbstständigen die höchste Präferenz für Arbeit, was angesichts des sozialen Mehrwerts der Arbeit, des Selbstwertgefühls, der Eigenständigkeit und des höheren Einkommens auch nicht weiter verwunderlich ist. Trotzdem halten sich diese Narrative. Sie scheinen sogar selbst dieser Tage auf einmal wieder mit neuer Kraft zurückzukommen: Obwohl wir multiple Krisen durchleben, Corona, Klimawandel, Energiepreisschock, und es immer deutlicher wird, dass unser Wirtschaftssystem nicht funktioniert, hört man jetzt verstärkt „Arbeit muss sich wieder lohnen“ und dergleichen.Wir erleben im Prinzip eine ähnliche Situation wie in den 1970er und 1980er Jahren, als eine Krise dafür genutzt wurde, bestehende sozial- und wirtschaftspolitische Errungenschaften abzuwickeln. In der Nachkriegsordnung gab es ein Bewusstsein dafür, welches Selbstzerstörungspotenzial im Kapitalismus steckt. Als die Nachkriegsordnung in Bretton Woods ausgearbeitet wurde, hat US-Präsident Franklin D. Roosevelt die Banker aus dem Hotel geworfen und gesagt: „So, Leute, ihr habt mit eurem Casinospiel dazu beigetragen, dass die Welt in Brand gesteckt wurde. Wir machen jetzt eine vernünftige Währungs- und Finanzordnung, die so etwas unterbindet.“ Man entwickelte daraufhin ein internationales Währungs- und Finanzsystem, das für Stabilität sorgte und den Finanzsektor in seine langweilige, aber der Realwirtschaft dienliche Funktion zurückdrängte. Die nationalen Ökonomien bauten auf ein neues soziales Modell, das sicherstellte, dass die breite Masse vom technologischen Fortschritt profitiert und dass keine großen Ungleichheiten entstehen. Das hat Teilen der Eliten natürlich überhaupt nicht gepasst. Weshalb dieses Modell ja dann auch irgendwann abgelöst wurde, durch ein sehr viel elitenfreundlicheres ... Die Ölpreiskrisen 1973 und 1979 verursachten, ähnlich wie der Energiepreisschock der letzten Jahre, hohe Preissteigerungen, weil sich das Verhältnis der Import- zu den Exportpreisen für uns als Energieimporteure verschlechterte. Durch die massiven Lohnsteigerungen, die die Gewerkschaften damals bei wirklicher Vollbeschäftigung durchsetzen konnten, wurde aus dem Angebotsschock eine Inflation. Diese Krise wurde anschließend von reaktionären, libertären und neoliberalen Kräften genutzt, um eine Wirtschaftspolitik durchzusetzen, die das Kräfteverhältnis von Arbeit zu Kapital zugunsten des Kapitals verschob. Jetzt erleben wir per se eine Neuauflage dieser Dynamik, wenngleich von einer völlig anderen Ausgangslage aus. Derzeit wird selbst das bisschen an Fortschritt torpediert, das wir in den letzten Jahren beispielsweise bei der sozialen Absicherung hatten. Auf der anderen Seite geraten Umweltauflagen, der Ausbau der Erneuerbaren und weitere Maßnahmen zur Dekarbonisierung der Wirtschaft unter Beschuss. In Ihrem Buch schlagen Sie als Gegenentwurf die katholische Soziallehre vor. Wieso haben Sie genau diesen Ansatz gewählt? Für mich hat das einerseits persönliche Gründe. Ich komme aus einer katholischen Familie, und diese Werte beeinflussen stark mein Denken. Auf der anderen Seite ist es bemerkenswert, wie Parteien, die ein C im Namen tragen, Oppositionspolitik gegen das Christentum machen. Und da war für mich die Hoffnung, dass man Teile der Konservativen wachrütteln kann. Viele der Positionen der katholischen Soziallehre, beispielsweise in der Lohn-, Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik, sind für die heutige Führungsriege der CDU nämlich nicht mehr als „linke Spinnereien“. Ich wollte mit diesem Ansatz zeigen, zu welchen wirtschaftspolitischen Prinzipien Konservative eigentlich verpflichtet wären. Lassen Sie dafür jetzt linke Theorie hinter sich? Dann kann man natürlich fragen, was denn links ist. Im Grunde hat die Soziallehre eine sehr lange Tradition, auch in Deutschland mit Theologen wie Oswald von Nell-Breuning oder dem CDU-Politiker Norbert Blüm. In vielen konservativen Kreisen ist das mittlerweile völlig vergessen, auch weil es nicht mit neoliberalen Erzählungen und Bildern zusammenpasst. Ich habe versucht, die Soziallehre aus der Versenkung zu holen und damit auch frischen Wind in die Debatte zu bringen.Wie sind Sie beim Schreiben mit der Ambivalenz zwischen der Kirche als Institution und kirchlicher Theorie umgegangen? Da klaffen Theorie und Praxis ja oft auseinander ... Für mich steht das, was die Kirche im Laufe der Zeit oft fabriziert hat, offensichtlich im Kontrast zu dem, was in der Bibel steht. Da wurde der Glaube zu einem Instrument der Macht. Das ist allerdings kein Argument dafür, den Reichtum der biblischen Botschaft über Bord zu werfen. Im Buch schreiben Sie, „dass ein gewisses Maß an Ungleichheit in der Gesellschaft gewollt und gewünscht ist“. Wieso? Wir sind als Menschen alle gleich und trotzdem ganz verschieden. Wenn man ein gewisses Maß an ökonomischer Ungleichheit zulässt, dann würde dadurch im Grunde der Rahmen gesetzt, dass diese Dimensionen beide ausreichend berücksichtigt werden. Es gibt Menschen, die sagen: „Ich habe keine Lust, mich 80 Stunden die Woche abzuackern, ich mach lieber 35 Stunden und bin damit auch zufrieden.“ Man braucht hier einen gewissen Spielraum zur Selbstentfaltung, ohne dass die Ungleichheiten so extrem werden und einem das ganze System um die Ohren fliegt. Okay, aber wie viel Ungleichheit verträgt eine Gesellschaft in Ihren Augen? Diese Frage muss in einem gesellschaftlichen Konsens zustande kommen. Als Orientierungspunkt könnte man Ungleichheiten nehmen, die nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb von Gesellschaften vorherrschten. Wie groß genau die Ungleichheiten sein sollen, dafür gibt es keinen präzisen Schwellenwert. Es gibt aber Punkte, wo man klar sagen muss, dass hier zu viel Ungleichheit besteht. Das ist wie beim Fußball: Ob ein 2:0 eine klare Niederlage ist, kann diskutiert werden, bei einem 5:0 ist es dann schon eindeutig.Placeholder infobox-1
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