30. Januar 1933: In nur 53 Tagen kann sich Hitler mit seiner Diktatur einrichten

Zeitgeschichte Die Weimarer Republik war zu wenig von sich selbst überzeugt, als dass sie in der Stunde ihres Untergangs auf überzeugte Verteidiger hoffen durfte
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 05/2023
Sechs Jahre später besucht Hitler die Front und erhält einen Holzadler
Sechs Jahre später besucht Hitler die Front und erhält einen Holzadler

Foto: akg-images

Es geht rasend schnell. Wie es beim Fall ins Bodenlose kaum anders sein kann. Keine zwei Monate vergehen vom 30. Januar 1933, als Adolf Hitler die Macht in den Schoß gelegt wird, bis zum 23. März, dem Tag des Ermächtigungsgesetzes, als sie ihm kaum mehr entrissen werden kann. In nur 53 Tagen wird die Weimarer Republik abgefertigt und abgeschafft. Die Diktatur ist vollendet, als Agrarminister Alfred Hugenberg, Führer der Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP), am 27. Juni 1933 zum Abgang gezwungen wird. Noch am selben Tag erklärt sich die Partei für aufgelöst, gefolgt vom katholischen Zentrum am 5. Juli. Die SPD wird verboten, die KPD ist es längst.

Wir haben uns Hitler engagiert, hatten die DNVP-Minister und Vizekanzler Franz von Papen in aristokratischer Arroganz am 30. Januar räsoniert. Wir drängen ihn in die Ecke, bis er quietscht. Aber Hitler quietscht nicht, er schreit seinen Triumph heraus, um ihn auszukosten. Ohnehin wird die Partei der Stahlhelmer als Scharnier zwischen Republik und autoritärem Staat nur anfangs gebraucht. Die NSDAP hat bessere Trümpfe: die Gläubigkeit, den Fanatismus und die Rachsucht des entfesselten Kleinbürgers, dazu den Willen der Wirtschaft, sich ihrer zu bedienen. Wie nach 1918 die Lüge vom Dolchstoß der Heimat in den Rücken eines siegesgewissen Westheeres die Hirne besetzt hält, ist es nun die Parole: Die Juden sind Deutschlands Unglück.

Die Republik war zu wenig von sich selbst überzeugt, als dass sie in der Stunde höchster Gefahr auf überzeugte Verteidiger hoffen durfte. An ihrer Wiege stand eine abgewürgte Revolution, ihre Firmung erfuhr sie durch die nie gesühnten, nie als Schandtat geächteten Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Dieses Staatswesen wollte nicht wirklich gefeit sein gegen völkischen Wahn, die judenfeindliche Versuchung und polizeistaatliche Willkür. Wer sich – auch dank der SPD – seit 1925 mit Paul von Hindenburg einen erklärten Monarchisten als republikanisches Staatsoberhaupt zumutete, musste früher oder später an sich selbst scheitern.

Ob nach dem 30. Januar Gegenwehr aufflammt oder nicht – es wird gnadenlos zugeschlagen. In Berlin entstehen wilde Arrestlager der SA, auch „Blutburgen“ genannt, in der Hedemannstraße nahe dem Anhalter Bahnhof, in Kellern an der Schöneberger General-Pape-Straße, im SA-Lokal „Demuth“ in Köpenick und anderswo. Eingeliefert werden Sozialdemokraten, Kommunisten, Journalisten, Schriftsteller, Schauspieler. Häufig wird ihnen eine Schallplatte mit dem Horst-Wessel-Lied vorgespielt. Je öfter das geschieht, desto lauter haben die Gefangenen mitzusingen. Mund auf, Gesicht zur Wand, Hände an der Hosennaht, nicht aus dem Takt kommen, sonst droht die Peitsche.

In diesen Kasematten der Umerziehung ist das „Zeitalter der Humanitätsduselei“ unwiderruflich vorbei, wie Joseph Goebbels immerfort versichert. Es gibt jüdische Gefangene, deren Rückkehr unerwünscht ist. Der Arzt Arno Philippsthal aus Berlin-Biesdorf wird auf einer Pritsche in der General-Pape-Straße so lange geschlagen, bis sein Gesäß zur blutigen Masse wird und der Geschundene an einer Blutvergiftung stirbt. Wer den Keller überlebt, muss bei Entlassung die Erklärung unterschreiben, gut behandelt worden zu sein und über das Erlebte zu schweigen, andernfalls erfolge harte Bestrafung. Es sind Unterkunft und Verpflegung mit zwei Reichsmark pro Tag zu bezahlen. Zudem liegt frische Wäsche bereit. Misshandelte Gefangene sollen nicht in blutverschmierten Sachen auf die Straße treten. Also ist eine weitere Erklärung fällig, in der es heißt, Hemden, Hosen sowie Unterwäsche seien nur geliehen und nach 24 Stunden gereinigt im nächsten SA-Sturmlokal abzugeben. Die Ordnungsliebe der Landsknechte ist über jeden Zweifel erhaben.

Unter Hitler gibt es in Deutschland kein schlimmeres Verbrechen als die Vernunft

Kehrseite für den Aufstieg eines organisierten Sadismus ist der Untergang seiner Opfer. In dem noch 1933 geschriebenen Roman Die Geschwister Oppermann schildert Lion Feuchtwanger das Schicksal einer großbürgerlichen jüdischen Familie in Berlin. Zu spät begreift der Unternehmer Martin Oppermann, Inhaber eines Möbelhauses, nicht nur um die geschäftliche Existenz fürchten zu müssen, sondern in Lebensgefahr zu sein. Zu beharrlich glaubt sein älterer Bruder, der Schriftsteller Gustav Oppermann, das Deutschland Goethes und Heines sei immun gegen Judenhass. Zu lange lässt es Edgar Oppermann, Chefarzt der Laryngologischen Station eines städtischen Hospitals, über sich ergehen, wenn ihm die NS-Presse Tag für Tag unterstellt, er missbrauche „arische Patienten“ als Versuchspersonen, um Operationsmethoden bei Kehlkopfleiden zu testen. Derart aufgehetzt, weigern sich Kranke – trotz Heilung –, von diesem Arzt, einer Koryphäe über Deutschland hinaus, weiterbehandelt zu werden. Der darf uns nicht mehr anfassen, krächzen, flüstern oder hauchen sie. Als Edgar Oppermann dann doch wegen Verleumdung klagen will, wird ihm bald klar, dass die Latrine längst überläuft. Es fände sich kein Gericht in Deutschland, das die Klage annimmt, geschweige denn ein Verfahren riskiert.

Die Oppermanns maßen sich nicht an, das andere, bessere Deutschland zu sein, sie glauben, zum eigentlichen, wahren Deutschland zu gehören. „Gute Deutsche? Dreckige Juden seid ihr!“, schallt es zurück. Es ging euch lange gut, ihr seid nichts mehr gewohnt, befindet Jacques Lavendel, der Schwager aus dem Osten Europas, wo die Pogrome im Schtetl den Juden bedeuten, es ist besser, den Ochsen zu schlachten, bevor das Feuer ihn holt. Nur Gott allein schlägt den Tod. Wo ist er?

Im Leben der Geschwister Oppermann zerrinnt in wenigen Wochen, was sieben Generationen aufgebaut haben. Auch das rasend schnell. Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr, es gibt nur noch das Exil. Sie werden nicht aus der Untergrundbahn gestoßen, sie werden aus Deutschland hinausgeworfen. Martin Oppermann muss eine Nacht in die „Blutburg“. Nach Schlägen ins Genick, Gesicht zur Wand, Hände an der Hosennaht, wird er von einem SA-Führer gefragt: „Sie sind doch gut behandelt worden, Oppermann, oder?“ Der Gefangene kann die Frage schmecken, er würgt daran. Ganz unmöglich, sie zu schlucken. „Aber gewiss doch.“ Er darf gehen.

Lion Feuchtwanger ist Anfang 1933 auf Vortragsreise in den USA. Ihn erreicht die Nachricht von der Kanzlerschaft Hitlers während eines Empfangs der deutschen Botschaft in Washington. Zurück in Europa geht er nach Frankreich ins Exil. Nach Berlin zurückzukehren, wäre glatter Selbstmord. Gleich nach dem Reichstagsbrand wird sein Haus im Grunewald geplündert. Im Roman lässt Feuchtwanger den Vorfall in der Geschichte des Gustav Oppermann anklingen. Als Emigrant in der Schweiz erfährt der, dass die eigene Bibliothek auf einem Laster fortgeschafft wurde. Feuchtwanger tröstet seine Figur, indem er Gustav Oppermann vor der Flucht die Auskunft gönnt: „Auch wenn du drei Monate fortbleibst oder drei Jahre: da du ein guter Deutscher bist, ist Deutschland da, wo du bist.“

Adolf Hitler und die NSADP können sich nach dem 30. Januar 1933 in der Gewissheit einrichten, dass mit dreisten Lügen gut herrschen ist. Sind sie als solche erkennbar, umso besser. Wer belogen wird, ist ein Komplize, weil er sich belügen lässt. So mausert sich die „deutsche Volksgemeinschaft“ schon in der Frühzeit des Dritten Reiches zur Schicksalsgemeinschaft. Ging auch das rasend schnell?

Am 11. November 1933 fährt Hitler mit großem Tross in den Nordwesten Berlins nach Siemensstadt. Die Deutsche Wochenschau ist dabei, eine Werkhalle zum Schauplatz bestimmt, ein Podest unter dem Laufkran gebaut. Der Auftritt wird reichsweit übertragen. Goebbels sinniert, ganz Deutschland stehe still und halte den Atem an. Vor Tausenden von Arbeitern wird vorgeführt, wen die Gleichschaltung eines Landes alles erfasst. „Wir haben nun gearbeitet und haben in neun Monaten Ungeheuerliches erreicht.“ Hitler schreit und schwitzt. Es scheint so unverschämt selbstverständlich, sich einem herbeigetrommelten Gleichschritt hinzugeben.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden