Antifaschismus: Der Umgang mit den deutschen Verbrechen in der UdSSR gehört dazu
Geschichtsbewusstsein Es wäre ein lohnendes Ziel für den neuen deutschen Antifaschismus, sich auch der historischen Verantwortung zuzuwenden, die sich aus den faschistischen Verbrechen ergibt, die während des Zweiten Weltkrieges in der Sowjetunion verübt wurden
Das deutsche Heer ließ die Leningrader Bevölkerung systematisch verhungern
Foto: SNA/Imago
Es seien „Faschisten“ und „Nazis“ in der AfD, ist jetzt allenthalben zu hören, sei es bei Reden auf Kundgebungen, in Kommentaren oder bei Straßenumfragen. Ob das für die derzeitige extreme Rechte in Deutschland zutrifft oder nicht – eines bleibt bei solcherart semantischer Zuspitzung auf der Strecke: die Singularität des Originals, des NS-Staates zwischen 1933 und 1945. Wer verbal überreizt, läuft Gefahr, dessen menschenverachtendes Dasein zu relativieren. Auch ist die neue Rechte eben nicht die alte. So bleibt’s beim Kampfbegriff – möge er nützen! Leise schallt aus dem Background Ernst Thälmanns „Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!“
„Faschismus“ zu sagen, galt bisher als un
„Faschismus“ zu sagen, galt bisher als unfein und blieb marginalisierten Antifas überlassenAuffallend kontrastiert das „Nazi“-Verdikt dennoch mit dem verklärenden offiziösen Sprachgebrauch der Bundesrepublik und ihrer „gebildeten“ Kreise, die dem Faschismus des III. Reiches bisher lediglich zugestanden, „Nationalsozialismus“ gewesen zu sein. Womit man sich dem demagogischen Impetus der Urheber dieses Begriffs unkritisch auslieferte. Statt kompromisslos gebrandmarkt zu werden, wurden Hitler und sein System durch verbale Konzilianz verharmlost. „Faschismus“ zu sagen, galt als unfein und blieb marginalisierten Antifas überlassen, die nur allzu häufig als linksextremistisch verteufelt wurden. Der verschämten sprachlichen Bewältigung deutscher NS-Vergangenheit entspricht der selektive Umgang mit deren Schuldgeschichte und daraus resultierender politischer Verantwortung. Es verwundert schon, dass sich derzeit viele Bürger zum Antifaschismus hingezogen fühlen, aber am zurückliegenden Wochenende ein Ereignis völlig ausgeblendet blieb: die Befreiung Leningrads von verheerender deutscher Blockade vor 80 Jahren am 27. Januar 1944. Fast 900 Tage hatte sich an dieser Großstadt eine faschistische Kriegsführung abgearbeitet, die es sich vollauf verdient hatte, so genannt zu werden. Schade, wenn in Deutschland gerade jetzt nicht oder kaum daran erinnert und der Opfer gedacht wird.Diese Geschichtsscheu stellt dem obwaltenden antifaschistischen Moralismus kein günstiges Zeugnis aus, es walten Erfahrungsferne und das instinktsichere Bewusstsein für die Risiken der Frage: Der deutsche Faschismus in der Sowjetunion, was lehrt uns das? Um das Geschehen von einst zu rekapitulieren: Am 27. Januar 1944 wird der deutsche Belagerungsring durch eine sowjetische Großoffensive aufgebrochen. Da Anfang Januar die deutsche Heeresgruppe Nord eingekesselt zu werden droht, muss sie den Rückzug antreten. Dadurch halten wieder sowjetische Verbände die Eisenbahnlinie von Leningrad nach Moskau und stehen in der Stadt an der Newa. 872 Tage der Blockade sind vorbei. Begonnen hat sie am 8. September 1941, als die 18. deutsche Armee angreift und die Stadt komplett einschließt. In der Konsequenz sind alle Versorgungs- und militärischen Nachschublinien unterbrochen, allein eine Route über den allerdings erst ab Dezember zugefrorenen Ladogasee – genannt „Straße des Lebens“ – steht noch zur Verfügung – und unter stetem Beschuss. An Leningrad soll ein Exempel statuiert werdenZwischen September 1941 und Januar 1944 starben nicht 700.000 Menschen, wie das die sowjetische Geschichtsschreibung bis in die 1980er Jahre hinein annahm, auch nicht über 900.000 – so die Zahl, wie sie der Schriftsteller und Leningrad-Überlebende Daniil Granin in seinem Blockadebuch verwendet. Tatsächlich gab es 1,1 Millionen Tote – Erfrorene, Verhungerte und durch Bomben sowie Artillerie Getötete – legen sich russische Historiker inzwischen fest. Von den vielen Kriegsverbrechen, die von der Wehrmacht in der Sowjetunion verübt worden sind, handelt es sich bei der Abschnürung von drei Millionen Menschen um eines der furchtbarsten und erbarmungslosesten. Als das „Unternehmen Barbarossa“ bereits im Gange ist, schreibt Hitlers Generalstabschef Franz Halder am 8. Juli 1941 in sein Tagebuch: „Feststehender Entschluss des Führers ist es, Moskau und Leningrad dem Erbboden gleichzumachen, um zu verhindern, dass Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter ernähren müssten.“An Leningrad soll ein Exempel statuiert werden, an der Stadt der Revolution von 1917, der wichtigsten sowjetischen Metropole nach Moskau, an einem Schmelztiegel russischer Geschichte und Kultur, dem Stolz des Landes. Kapituliert hat die Stadt an der Newa in den 872 Tagen des Verderbens nie, was ohnehin nichts geholfen hätte.Am 12. Oktober 1941 – da hat die Blockade bereits begonnen – heißt es im Kriegstagebuch der daran beteiligten Heeresgruppe Nord des Generalfeldmarschalls Wilhelm Ritter von Leeb: „Der Führer hat erneut entschieden, dass eine Kapitulation von Leningrad nicht anzunehmen ist, auch wenn sie von der Gegenseite angeboten würde.“ Und am 27. Oktober 1941 ist für den gleichen Truppenteil im Kriegstagebuch vermerkt: „Wenn sich die roten Truppen im Raum Leningrad und Kronstadt ergeben … und in Gefangenschaft abgeführt sind, sieht Oberbefehlshaber keinen Grund mehr, die Einschließung der Stadt aufrechtzuerhalten. Die Truppe wird in die Unterkunftsräume verlegt. Auch dann wird ein großer Teil der Bevölkerung zugrundegehen, aber doch wenigstens nicht unmittelbar vor unsren Augen.“ Am 25. Dezember notiert Wolodja: „Zehn Uhr morgens stirbt Papa“Die Menschen in der todgeweihten Stadt verfallen. Sie magern ab zum Skelett. Ob sie sitzen, stehen oder liegen – es bereitet ihnen Schmerzen. Der 16-jährige Wolodja Wolkow schreibt am 23. November 1942 in sein Tagebuch: „Das Leben verschlechtert sich.“ Am 25. November heißt es: „Das Leben wird noch schlechter, Brot für Arbeiter 250 Gramm, für die anderen 125, zwei bis drei dünne Scheiben.“Am 26. November: „Papa fühlt sich schlecht, Mama auch und Tante Pascha.“ Einen knappen Monat später, am 19. Dezember, vermerkt der Junge: „Papa geht es schlechter. Mama schwillt an, Tante Pascha auch.“ In der Wohnung sind die Tapeten von den Wänden gerissen, weil sich der geronnene Kleister und das Papier in Wasser auflösen und als Brei verzehren lassen. Am 25. Dezember notiert Wolodja: „Zehn Uhr morgens stirbt Papa. Sie haben das Brot erhöht, für Arbeiter 350 Gramm, für die anderen 200 Gramm. Lebensmittel können wir nicht bekommen, Mama hat Geschwulste und Tante Pascha ...“Hier reißt das Tagebuch ab, weitere Eintragungen sind nicht überliefert.Die Leichen lagen steif in Hauseingängen oder auf der Straße„Und so brach an, gehüllt in Eis und Blut, das Jahr zweiundvierzig – erbitterter Mut. Oh, Jahr der Härte und Unbeugsamkeit! Auf Tod und Leben kämpfen wir“, schrieb die Lyrikern Olga Bergholz, als dieses Jahr, von dessen Ende Wolodja Wolkow erzählt, beginnt. Leningrad lag im Winter 1942 versunken unter einer makellos weißen Schneedecke. Es gab schmale Gassen für Fuhrwerke oder Schlitten, um die Leichen wegzuschaffen, die steif in Hauseingängen oder auf der Straße lagen.Ende Februar 1943 kursiert in der Stadt das Gerücht, dass an einem Tag nicht zwei- bis dreitausend Menschen, sondern 15.000 sterben würden. Grund sei eine Pocken-Epidemie, an der viele Kinder zugrunde gingen, denen nicht geholfen werden kann. Dazu dröhnt das Metronom der Blockade, der fünfte, der einhundertzwanzigste, der dreihundertzwölfte, der fünfhunderteinundachtzigste, der achthundertzweiundsiebzigste Tag. Vor achtzig Jahren konnte dieses Zählwerk endlich und endgültig angehalten werden. Mit der Ritter-von-Leeb-Kaserne wurde ein hoher Militär Hitlers geehrtDie erwähnten Militärs – Franz Halder und Wilhelm Ritter von Leeb – wurden nach dem Zweiten Weltkrieg kaum zur Rechenschaft gezogen. Ersterer wird 1946 im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher als Zeuge der Anklage gehört und danach von der US-Armee in deren „Historische Sektion“ berufen. Dort kann Halder bis 1961 Einfluss auf die Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg nehmen und „der übermenschlichen Leistung des deutschen Soldaten … ein Denkmal“ setzen. Ex-Generalfeldmarschall Ritter von Leeb musste zwar nach 1945 drei Jahre in Haft verbringen, kam dann aber wieder auf freien Fuß und blieb fortan unbehelligt. 1965 gab die Bundeswehr einem Standort in Landsberg am Lech den Namen Ritter-von-Leeb-Kaserne und ehrte damit einen hohen Militär Hitlers, der 1941 in Kauf nahm, dass in Leningrad „ein großer Teil der Bevölkerung zugrundegehen“ kann.Erst 1992 wurde diese Namensgebung als problematisch empfunden und rückgängig gemacht. Da hatte die Geschichtsferne der Bundeswehr als eines Bannerträgers der Demokratie wohl überhandgenommen. Aber von einem antifaschistischen Bekenntnis konnte bei dieser Korrektur keine Rede sein.
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