Wannseekonferenz? Der richtige Vergleich sind die „Boxheimer Dokumente“ von 1931
Geheimtreffen So wichtig es ist, den Niedergang der Weimarer Republik nicht aus den Augen zu verlieren, so falsch ist die Gleichsetzung des Potsdamer Treffens im November mit der Wannseekonferenz im Jahr 1942 – genauso wie die Dauerfixierung auf die AfD
Eine „Allianz der Mitte“ beschwört den Zusammenhalt gegen die AfD – doch das allein wird die Republik nicht retten
Fotos: Alexander Anufriev
Das Jahr 2024 hätte nicht symptomatischer beginnen können: Am 10. Januar enthüllte die Recherche-Plattform Correctiv den rechtsradikalen „Geheimplan gegen Deutschland“. Zwei Dutzend AfD-Funktionäre, CDU-Mitglieder und notorische Rechtsextremisten hatten sich am 25. November letzten Jahres in der Potsdamer Villa Adlon am Lehnitzsee getroffen, um dort – „ganz privat“ und ungestört – die Möglichkeiten zu erörtern, wie man nach einem politischen Machtwechsel Millionen von unerwünschten Bürgern und Migranten aus dem Land treiben könnte. Dagegen protestierten am vergangenen Wochenende, trotz Glatteis und Kälte, rund 1,4 Millionen Menschen in einem „Aufstand der Anständigen“.
Unter ihnen sch
Unter ihnen schwarze und rote Ministerpräsidenten, zahlreiche Abgeordnete, viele Bürgermeister und Gemeinderäte. Unterstützt wurden sie von Großkonzernen wie Daimler, Bosch, Telekom, SAP und Deutscher Bank, ermutigt von Gewerkschaften, Kirchen, Sportfunktionären, dem Bundesverband der Deutschen Industrie und der Deutschen Industrie- und Handelskammer.Sogar Friedrich Merz hat Kreide gefressenEs war, als wäre das vor exakt 100 Jahren (kurz nach dem gescheiterten Hitlerputsch) von der Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP zur Verteidigung der Republik gegründete „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ wiederauferstanden, und zwar als jene „Allianz der Mitte“, die NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) im Dezember als neues Bündnis zur gemeinsamen Krisenbewältigung gefordert hatte. Oder, um ein berühmtes Kaiser-Wort aus dem Jahr 1914 abzuwandeln: Die bedrohte Republik kennt keine Parteien mehr, sie kennt nur noch Antifaschisten.Selbst der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, als Oppositionsführer gern auf Krawall gebürstet, hat angesichts der machtvollen Demonstrationen der Zivilgesellschaft Kreide gefressen. In der ARD-Sendung Caren Miosga am Sonntagabend grenzte er sich „ohne Wenn und Aber“ von der AfD ab, strahlte staatsmännische Besonnenheit, ja präsidiale Milde aus und erneuerte sein fast schon in Vergessenheit geratenes Angebot auf Zusammenarbeit mit der ungeliebten Ampelregierung.Eintracht im BundestagSogar eingefleischte Merz-Hasser kamen nicht umhin, ihn nach der kuschelweichen Befragungssimulation durch Caren Miosga ein ganzes Stück sympathischer zu finden. „Wenn jeder Zehnte von denen, die heute demonstrierten“, so Merz in überraschend überparteilicher Gönnerlaune, „morgen in eine politische Partei eintritt, sei es die FDP, die SPD, die Grünen, die CDU oder die CSU“, wäre uns allen noch mehr geholfen. Denn der anhaltende Mitgliederschwund der Parteien habe die aktuelle Schwäche der Demokratie erst ermöglicht.Auch im Bundestag debattierten die von Merz genannten Mitte-Parteien am vergangenen Donnerstag in seltener Eintracht: Sie nutzten die angesetzte Aktuelle Stunde zu gemeinsamen Attacken auf die AfD und inszenierten sich als uneigennützige, fürsorgliche und wertebasierte Verteidiger der Demokratie.Eingebetteter MedieninhaltKanzler Olaf Scholz (SPD) richtete anschließend per Videopodcast noch warme Worte des Zusammenhalts an alle Demonstranten. „Rechtsextremisten“, sagte er, „greifen unsere Demokratie an. Sie wollen unseren Zusammenhalt zerstören.“ Dagegen müssten sich alle Gutwilligen jetzt unterhaken und widerstehen. Im „Schicksalsjahr“ 2024 riecht es nach ganz großer Koalition.Doch die Aufregung, die helle Empörung und der Schock, den die rechtsextremen Potsdamer Planspiele auslösten, haben auch eine bedenkliche Kehrseite.Artikel 18 gegen Björn Höcke?So haben mehr als 1,5 Millionen Menschen die Online-Petition „Höcke stoppen!“ der Kampagnen-Plattform Campact unterzeichnet. Darin wird die Regierung aufgefordert, beim Bundesverfassungsgericht eine „Grundrechtsverwirkung“ gemäß Artikel 18 Grundgesetz für den Thüringer AfD-Vorsitzenden zu beantragen. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass Björn Höcke – sollte die Landtagswahl im Herbst so ausgehen, wie es die Umfragen momentan andeuten – im dritten Wahlgang zum Ministerpräsidenten gewählt wird. Doch bisher hat das Bundesverfassungsgericht noch alle Anträge auf Entzug von Grundrechten gegen Alt- oder Neonazis so lange verzögert, bis die Antragsteller irgendwann das Interesse verloren und resigniert aufgaben.Nicht ohne Grund: Artikel 18 ist ein unseliges Relikt aus der Zeit der Weimarer Republikschutzgesetze. Mit ihnen wollte die Regierung den rechten Terror und den Aufstieg der Nazis verhindern, doch am Ende kriminalisierten die Nazis mit genau diesen Gesetzen und Notverordnungen ihre demokratischen Gegner (siehe „Reichstagsbrandverordnung“).Nancy Faesers ahistorischer VergleichAuch die derzeit erhobene Forderung, die AfD schlicht und einfach zu verbieten, würde ein jahrelanges Verfahren nach sich ziehen, das am Ende juristisch scheitern kann. Da nützt es auch nichts, dass sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hinsichtlich des Potsdamer Treffens zu einem ahistorischen Vergleich hinreißen ließ: „Das weckt unwillkürlich Erinnerungen an die furchtbare Wannseekonferenz.“ Von „Wannsee 2.0“ war auch in den sozialen Netzwerken viel die Rede.Während der Wannseekonferenz im Januar 1942 hatten hohe Nazi-Funktionäre, SS-Führer und Beamte aus den Reichsministerien mitten im Krieg die „Endlösung der Judenfrage“, also die industrielle Vernichtung der europäischen Juden, geplant. Es handelte sich nicht um ein abseitiges Treffen oppositioneller, machtloser Extremisten, sondern um einen staatlichen Mordplan, ein monströses Verbrechen der diktatorisch herrschenden Exekutive.Viel eher hätte die Hessin Faeser auf die „Boxheimer Dokumente“ verweisen können. Denn im Sommer 1931 hatten sich im Boxheimer Hof im südhessischen Bürstadt führende hessische Nationalsozialisten getroffen, um ein Umsturzszenario des NSDAP-Funktionärs und Gerichtsassessors Werner Best zu beraten. Best, damals noch belächelter Außenseiter, später Personalchef der Gestapo und Stellvertreter Reinhard Heydrichs im Reichssicherheitshauptamt, plante 1931 die Übernahme der Staatsgewalt nach einem fingierten kommunistischen Putschversuch und hatte, neben der Einführung eines willkürlichen Kriegsrechts, auch bereits Konzentrationslager für Oppositionelle vorgesehen.Ein mit der lokalen NSDAP verkrachter Teilnehmer des Treffens, Wilhelm Schäfer, steckte die Informationen zehn Tage nach der hessischen Landtagswahl, bei der die NSDAP von null auf 37,1 Prozent hochgeschnellt war, dem Frankfurter Polizeipräsidenten. Dieser informierte SPD-Innenminister Wilhelm Leuschner, und der machte den Skandal öffentlich, um a) endlich ein Verbotsverfahren gegen die NSDAP zu erwirken und b) den nach der Landtagswahl eingeleiteten Annäherungsversuch zwischen dem konservativen Zentrum und der NSDAP zu torpedieren.Die „Eiserne Front“ zur Abwehr der RepublikfeindeLetzteres gelang, Ersteres nicht, denn Reichskanzler Heinrich Brüning, ein Zentrumspolitiker, flirtete bereits mit den Nazis und verharmloste deshalb bewusst die Boxheimer Dokumente. Am 8. Dezember 1931 scheiterten die schwarz-braunen Koalitionsverhandlungen in Hessen an den Maximalforderungen der Nazis. Nur eine Woche später gründete das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold die „Eiserne Front“ zur Abwehr der Republikfeinde.Im Gründungsaufruf hieß es kampfbereit: „Das Jahr 1932 wird unser Jahr sein, das Jahr des endlichen Sieges der Republik über ihre Gegner. Nicht einen Tag, nicht eine Stunde mehr wollen wir in der Defensive bleiben – wir greifen an!“ Wie man sich täuschen kann! Weder das Reichsbanner mit seinen mehr als drei Millionen Mitgliedern noch die Eiserne Front, weder die SPD noch die Gewerkschaften erhoben sich gegen die Machtübernahme der Nazis.Im Gegenteil. Als die KPD am 2. Februar 1933 zum Generalstreik rief, lehnte die Eiserne Front das Ansinnen der Kommunisten ab und warnte vor „wilden Aktionen“. Für durchschlagenden Widerstand war es schon zu spät. Aufgrund dieses historischen Versagens schauen heute viele, die aus der Geschichte gelernt haben, mit besonderer Aufmerksamkeit auf erste Warnzeichen und verfallen dabei bisweilen in ungute, aber nachvollziehbare Hysterie.Doch so wichtig es ist, die Etappen des Niedergangs der Weimarer Republik nicht aus den Augen zu verlieren, so falsch wäre es, die heutige Situation mit der damaligen gleichzusetzen. Die Dauerfixierung auf die AfD und das inflationäre, undifferenzierte „Nazi-Nazi“-Geschrei ist auch eine willkommene Ablenkung von den aktuellen Problemen, eine Ablenkung von den Schwächen der Regierung und der Opposition, von den Differenzen zwischen den Parteien und mancher einfältigen Haltung in internationalen Fragen. Die Allianz der Mitte deckt all dies zu mit dem Mantel des Republikschutzes, des verbalen Antifaschismus und des entpolitisierenden Gesangs vom notwendigen Zusammenhalt. Das allein wird die Republik nicht retten.
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